Mannheim/Ludwigshafen. Oleksandr Kavlim ist gerührt als er sich, ausgestattet mit einer Ukraine-Fahne über dem Rücken, einem Plakat gegen Putin in der rechten und seinem Smartphone in der linken Hand, auf eine Bank stellt und den Zug überblickt, der durch die Breite Straße läuft. „Diese Bilder, dieses Ereignis wird meinem Bruder Hoffnung machen“, sagt er. „Mein Bruder kämpft heute in Charkiw gegen Putins Russland in einem sinnlosen Krieg.“
Kavlim ist einer von vielen in der Region lebenden Ukrainerinnen und Ukrainern, die am Samstag dem Aufruf der Grünen-Stadträte Gerhard Fontagnier und Chris Rihm gefolgt sind, um in Mannheim und Ludwigshafen ihre Solidarität mit ihrem Heimatland zu zeigen und gegen den Krieg zu demonstrieren. Aber es sind auch viele Mannheimerinnen und Ludwigshafener, die zunächst vom Alten Meßplatz und vom Berliner Platz aus schweigend zum Ehrenhof des Mannheimer Schlosses laufen. Die Polizei spricht am Abend von etwa 10 200 Menschen, die die Kundgebung im Ehrenhof verfolgen. Fontagnier erklärt vor dem Schloss, es sei „die größte Friedensdemonstration, die diese Region je gesehen hat“.
Auch ein paar Russen sind auszumachen. Etwa Jegor, der nur seinen Vornamen nennen will. „Ich will zeigen, dass nicht alle hinter Putin und seinem Verbrechen stehen“, sagt er - und verschwindet mit seiner Fahne, die aus der russischen und der ukrainischen besteht, in der Menge.
Demokratie gegen Totalitarismus
Der Platz im Ehrenhof reicht nicht aus. Während, das ist die Einschätzung des Redakteurs vor Ort, der größte Teil die gesamte Veranstaltung über Maske trägt, teilt die Polizei mit, dass 3000 Menschen die Reden von der Bismarckstraße aus verfolgen, um „die pandemiebedingten Auflagen“ zu erfüllen. „Wir wünschen uns, dass alle in der Ukraine das Bild sehen, das wir von der Bühne aus sehen: Solidarische Menschen, die für den Frieden zusammenstehen und nicht für den Krieg sind“, erklärt Fontagnier zu Beginn der Kundgebung. Während hier demonstriert werde, „zerbombt Putin die Zivilbevölkerung in der Ukraine“, sagt Rihm. Neben dem gemeinsamen Trauern, dem gemeinsamen Weinen wolle man gemeinsam in die Zukunft schauen. „Wir haben ein beispielloses zivilgesellschaftliches Engagement in der Region erlebt.“
Ein Engagement, für das sich Kateryna Malakhova, Beisitzerin der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft Rhein-Neckar, ausdrücklich bedankt. „Meine Familie in der Ukraine erlebt unter Beschuss die neue schreckliche Realität.“ Dass Menschen in U-Bahnen und Keller lebten, während „Putin die Städte Tag und Nacht bombardiert“, sei diese „neue Realität - mitten in Europa“. Die Annahme, der Krieg betreffe nur die Ukraine, sei „komplett falsch“, sagt sie. „Es ist ein Krieg zwischen Demokratie und Totalitarismus.“ Ähnlich äußert sich Stefan Schmutz. „Der brutale Angriff auf das ukrainische Volk ist ein Angriff auf die Basis unseres Wertefundaments“, kritisiert der Bürgermeister von Ladenburg, der für alle Bergstraßen-Städte spricht und dem ukrainischen Volk bescheinigt, die Werte Europas „heldenhaft“ zu verteidigen. „Sie verdienen jede Hilfe, um das Leid zu lindern und den schändlichen Angriffskrieg zu stoppen.“
Europas Geschichte könne „jeden Tag neu geschrieben werden“, warnt Malakhova, ehe sie fordert, „jegliche wirtschaftlichen Beziehungen“ zu Russland zu unterbinden und stattdessen militärische Hilfe zu leisten. „Lasst uns nicht allein.“
Hoffen auf Opposition
Kurzfristig erkrankt, lässt Larissa Bogacheva ihre Rede vorlesen. Die in Heidelberg lebende russische Friedensaktivistin leide „im Namen aller ehrlichen, frei denkenden Menschen in Russland“ mit der Ukraine. Zwar würde es viele Menschen in Russland geben, die so denken, lässt Bogacheva ausrichten. „Aber leider sind wir immer noch in der Minderheit.“ Wie schon während der Demonstration auf dem Toulonplatz am 25. Februar distanziert sich Bogacheva deutlich von Putins Russland. „Ich schäme mich für die russische Regierung und für jeden in und außerhalb Russlands, der Putin rechtfertigt.“ Jeder Unterstützer beteilige sich an den Verbrechen, die Putin im Namen des russischen Volkes verübe. Die Opposition hätte auf „großen Widerstand in unserem Land“ gehofft, erklärt sie. „Eine ganz kleine Hoffnung haben wir immer noch“, weil trotz Verbots immer wieder Menschen in Russland gegen den Krieg protestieren würden. „Das sind unsere Helden, weil das im heutigen Russland viel Mut bedeutet.“
„Unbändiger Freiheitswille“
Indes appelliert Anne Ressel für die evangelische und katholische Kirche nach der Entscheidung Putins, atomare Streitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen, „jede weitere Eskalation“ zu vermeiden und auf Verhandlungen zu setzen. „Die Friedensinitiativen der Kirchen sind erschüttert über die geplante Aufstockung des Rüstungsetats.“
Mannheims Oberbürgermeister Peter Kurz erklärt, Putin habe den „unbändigen Freiheitswillen“ der Ukraine unterschätzt. „In der perversen Logik seines Kriegs wählt er nun die Zivilbevölkerung als Angriffsziel.“ Zahlreiche Demonstrationen seien ein Signal, dass „die Spaltung der Demokratien nicht gelingt“, und ein Beweis dafür, „dass niemand mehr Putin und seinen ihm offenbar so wichtigen Rechtfertigungsreden glaubt“. Seine Ludwigshafener Amtskollegin Jutta Steinruck betont die Wichtigkeit, sich in Europa mehr denn je für den Frieden einzusetzen. „Lasst es nicht nur bei heute, sondern bleibt dabei.“
Weitere Kundgebungen möglich
So wortgewaltig und stark die Reden sind, so im positiven Sinne kämpferisch die Stimmung auf dem Ehrenhof ist, so leise endet eine in der Region wohl historische Kundgebung: Bei immer kälter werden Temperaturen verlassen Tausende nach dem ersten Redeblock den Platz. Zu einem zweiten Block, unter anderem mit Ansprachen von drei Bundestagsabgeordneten, kommt es nicht.
Veranstalter und Politiker zeigen sich dennoch zufrieden. Ob es weitere Demonstrationen geben wird? Der Tag habe gezeigt, „dass Bedarf vorhanden ist“, erklärt Rihm dieser Redaktion. Es hänge auch vom Verlauf des Kriegs in der Ukraine ab. „Ich schließe aber nicht aus, dass noch was kommt“, sagt der Stadtrat.
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