Mehrnousch und Mehrdad Zaeri-Esfahani haben die Titelseite unserer Weihnachtsausgabe gestaltet. In der Erzählung über ihre Ankunft in Deutschland 1985 steckt viel Zuversicht – genau wie in diesem Gespräch.
Auf unserer Titelseite lernen die Leserinnen und Leser Ihre Familie heute auf besondere Art kennen. Wie prägt das Geschwistersein Ihre Zusammenarbeit?
Mehrdad: Mehrnousch ist das Gedächtnis unserer Familie. Wenn ich zu ihren Texten zeichne, entsteht ein vollständiges Wesen, das seine Geschichte erzählt. Rein emotional gesehen teilen wir uns eine Innenwelt. Ich habe das Gefühl, dass wir vier Geschwister und unsere Eltern bei allem, was wir gemeinsam machen, diese Seele wie eine Flamme zwischen uns erhalten und immer wieder neu entfachen.
Mehrnousch: Mehrdad schreibt mit seinen Bildern Geschichten und ich male mit meinen Worten Bilder. Auch bei dem Text auf der Titelseite habe ich mit Bildern gespielt. Aber nicht nur schöpferisch als Autorin – sondern auch mit einer Botschaft der Referentin, die ich ebenfalls bin.
Warum haben Sie sich dafür entschieden?
Mehrnousch: Weil gerade heute eine Haltung für das Zusammenleben wichtig ist: in einer Zeit, in der wir eine Spaltung in der Gesellschaft erleben. Allerdings will ich betonen: Diese Spaltung bereitet mir keine Sorgen. Ich halte sie eher für eine notwendige Reaktion auf die Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre. Ich weiß, dass diese Trennung nur passiert, weil danach eine Aufklärungszeit kommen wird.
Diese Zuversicht – so viel Hoffnung und Glaube an das Gute – spiegelt sich in Ihrem Text sehr stark wider. Teilen Sie den Optimismus Ihrer Schwester, Herr Zaeri?
Mehrdad: Ja, absolut. Ich weiß gar nicht, ob ich das Optimismus nennen würde. Es ist eher Realismus. Wir sind uns einig: Wir müssen erst einmal durch ein tiefes Tal gehen. Wir werden erleben, dass Populismus und Radikalismus – aus verschiedenen Richtungen – in manchen Teilen der Gesellschaft noch sehr viel mehr erstarken, auch politisch. Aber wir müssen da durch, um zu reifen. Um zu verstehen, dass wir eigentlich alle auf der Suche nach derselben Sache sind: nach Liebe, nach Zufriedenheit.
Mehrnousch: Wir arbeiten viel mit Kindern und Jugendlichen. Es ist unglaublich, wie aufgeklärt sie sind, wie viel sie wissen wollen, was für wunderbare Menschen das sind. Diese Generation schwimmt noch ein bisschen, weil sie von allem zu viel bekommt. Aber wenn ich sie mir anschaue, dann kann es in Europa nur eine gute Zukunft geben. Davon bin ich überzeugt. Voraussetzung ist, dass wir ehrlich zu ihnen sind.
Sie schreiben, dass unsere Seelen offenbleiben müssen für die Geschichten der anderen. Wie kann das gelingen?
Mehrnousch: Mittlerweile spricht man nicht mehr von interkultureller Kompetenz – was sich nur auf Kulturen bezieht –, sondern von Diversität: Diese Vielfalt zu leben, funktioniert aber nur, wenn jeder von uns die ureigene Schatzkiste betrachtet, in der wir von Geburt an Steine sammeln: Perlen, Goldstücke und Edelsteine, aber auch einige schwarze Steine – dann etwa, wenn eine Zäsur passiert, ein Verlust, ein Schmerz. Doch zu häufig befassen wir uns mit den Steinen der anderen und bewerten diese.
Dabei wäre es nötig, sich mit der eigenen Truhe zu beschäftigen?
Mehrnousch: Genau. Die Entwicklungspsychologin Heidi Keller definiert: Divers können wir nur dann leben, wenn wir uns auf unsere eigene Biografie konzentrieren. Wenn wir uns bewusst machen, welche schönen Steine wir in unserer Schatzkiste haben, wovon wir zehren – und dabei auch die schwarzen nicht aus dem Blick verlieren. Wenn wir mit uns selbst Frieden schließen, uns die eigenen Fehler verzeihen, sind wir in der Lage, das Andersartige – was wir nicht kennen oder ungewohnt finden – auch als schön wahrzunehmen und zu lieben.
Eine besondere Perle in Ihren Schatzkisten dürfte die Ankunft in Berlin sein, um die es in der Weihnachtsgeschichte geht. Vielen Dank, dass Sie dieses persönliche Erlebnis mit uns teilen.
Mehrnousch: Wenn wir einen Auftrag bekommen, machen wir immer erst einmal eine Art Brainstorming am Telefon. Ich wollte eine schöne Weihnachtsgeschichte schreiben – aber Mehrdad erinnerte mich an unsere eigene. Dieses „Hotel bitte?“ unseres Vaters, das hätte Josef doch auch so gesagt.
Mehrdad: Es ist eine Stärke von uns beiden, dass wir unsere eigenen Innenwelten erzählen. Was gibt es für eine bessere Weihnachtsgeschichte als die, die man selbst erlebt hat? Wir sind eine Familie von Geschichtenerzählern – und haben keine Probleme, Persönliches preiszugeben.
Wie ist die Illustration zur Geschichte entstanden?
Mehrdad: Das funktioniert bei mir ganz intuitiv: Ich lag abends auf der Couch und zeichnete eine Familie. Dabei habe ich geschaut, was passiert. Dadurch, dass ich digital arbeite, kann ich immer wieder Linien wegradieren, neue hinzufügen – bis eine Form entsteht. Plötzlich kam dieser Eisbär und setzte sich auf die Schultern des Mannes. So wie der Betrachtende auf sich allein gestellt ist, zu fühlen, wie und was diese Zeichnung erzählt, so geht es mir im Entstehungsprozess. Ich merke plötzlich: Oh ja, jetzt trägt sie einen Vogel an der Leine. Kann sie den herunterziehen? Oder geht es darum, ihn loszulassen? Was stellt er dar? Das ist eine sehr emotionale Erzählweise.
Die Geschichte entsteht also erst während des Arbeitsprozesses?
Mehrdad: Ich zeichne am liebsten so, dass sie erst im Kopf der Betrachterin oder des Betrachters entsteht. Gar nicht auf dem Papier, sondern im Kopf. Warum verstecken sich die Kinder? Was empfinden sie? Plötzlich verstehe ich Dinge, die ich vorher nicht verstanden habe. Es ist für mich wie eine Bildertherapie mit künstlerischem Anspruch – als Beruf. In meinen Zeichnungen bin ich absolut ehrlich. Ich zeichne, was kommt.
Mehrnousch: Mehrdads Unterbewusstes übernimmt den Stift, der Körper ist nur das Werkzeug. Man kann nur interpretieren: Der Vater scheint gar nicht zu merken, dass er Hunderte Kilo auf dem Rücken trägt. Er trägt Verantwortung für die ganze Familie – aber er benutzt den Eisbären als wärmenden Schal. Der hat nichts Bedrohliches.
Passt das auf Ihren Vater?
Mehrnousch: Ja, so hat er es uns vorgelebt: „Wer weiß, wofür das gut ist?“ Er fragt das nicht nur, sondern er lebt diesen Gedanken. Auch wenn das Schicksal ihm einen Eisbären auf den Rücken setzt, sagt er sich: Für irgendwas ist der schon gut.
Mehrdad: Vor allem habe ich jetzt auch endlich die Antwort darauf, warum die Berliner damals weitergelaufen sind, obwohl mein Vater sie angesprochen hat: Er hatte diesen riesigen Eisbären auf der Schulter sitzen.
Neben dem schweren Bären gibt es in der Zeichnung auch den sehr leichten Vogel, der aber nicht frei fliegen kann.
Mehrnousch: Unsere Mutter ist ein Seelenmensch. Sie steht für die Sehnsucht, für das Vermissen dessen, was man verloren hat. Gleichzeitig ist sie offen gegenüber Neuem. Dieser Vogel, den sie an der Schnur hält, ist für mich das Zeichen für die Freiheit der Kunst. Dafür, aus den Erfahrungen etwas Neues, Schönes zu erschaffen.
Mehrdad: Auch für die Ungewissheit. Was will man mit so einem Vogel? Man kann ihn nicht herunterholen, weil er für die Luft gemacht ist. Man kann ihn aber auch nicht loslassen, weil er dann weg ist.
Freiheit, Offenheit, Ungewissheit – das alles sind Themen, die uns gerade sehr umtreiben.
Mehrdad: Schon das ganze Gespräch über denke ich an eine Aussage des Dalai Lama: „Wenn du einen anderen Menschen triffst, dann sieh ihn an und sei gut zu ihm, weil auch in ihm ein Kampf tobt.“ Das ist es im Grunde: Wir kapieren nicht, dass in jedem von uns ein innerer Kampf tobt und jeder von uns versucht, in diesem Leben so gut wie möglich zurechtzukommen. Es geht – nicht nur jetzt an Weihnachten – um Nächstenliebe. Und um die Frage, wie wir es schaffen können, sie zu leben: egal, ob in christlichen oder in anders geprägten Gesellschaften.
Haben Sie für sich eine Antwort darauf gefunden?
Mehrdad: Ich glaube, wenn Mehrnousch und ich auf der Bühne stehen und von uns erzählen, bleibt uns nur absolute Offenheit und Ehrlichkeit: Zwei anders aussehende Menschen aus einem für viele fremden Teil der Welt können den Leuten hier zumindest zeigen: „Auch die Iraner suchen auf die gleiche Art wie ich hier in Europa nach Nächstenliebe und nach dem Ende dieses inneren Kampfes.“ Ich glaube, das ist die größte Botschaft, die wir mit unserer Kunst weitergeben können.
Familiengeschichte
- Mehrnousch und Mehrdad Zaeri-Esfahani sind 1974 beziehungsweise 1970 im iranischen Isfahan geboren. 1985 reisten die Eltern mit ihren vier Kindern aus und flüchteten über die Türkei nach Deutschland. Beide machten Abitur in Heidelberg.
- Mehrnousch arbeitete bis Ende 2016 in ihrem Beruf als Sozialpädagogin. Sie schreibt heute biografische Bücher. 2020 übersetzte sie die Autobiografie ihres Vaters Hosein, nachdem sie vier Jahre zuvor mit „Das Mondmädchen“ und „33 Bogen und ein Teehaus“ ihr Doppeldebüt als Autorin feierte. Zudem tourt sie als Referentin mit ihrer Denkwerkstatt „Gemeinsam leben – Aber wie?“ zum gesellschaftlichen Zusammenhalt im deutschsprachigen Raum.
- Mehrdad illustriert unter anderem Bücher und gestaltet Kunstdrucke und Kalender. Zudem haben er und seine Frau, die Autorin und Fotografin Christina Laube, als das Duo Sourati neben ihren Papierwerkstätten oder Fotoprojekten mit Bodysketching bereits mehrere Murals, unter anderem in Mannheim, erstellt.
- Beide Geschwister stehen – auch gemeinsam – für Workshops und Vorträge auf der Bühne. Weitere Informationen unter: zaeri-autorin.de und mehrdad-zaeri.de
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