Mannheim. Was mal am Hauptbahnhof begann, ist längst zu einer Herzensaufgabe geworden. Natice Orhan-Daibel, früher Mitglied der sogenannten „Bahnhofshelfer“, unterstützt seit fast zehn Jahren Geflüchtete und Menschen in Not – heute vor allem über soziale Netzwerke. Denn das Helfen von 2015 bis heute hat sich verändert: „Ab und zu gibt es Menschen, die brauchen Hilfe beim Amt, weil da etwas nicht läuft. Das betrifft nicht nur Geflüchtete, auch deutsche Menschen“, sagt sie. „Da hatte ich zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern und Hund. Sie hatte monatelang kein Geld, bis die Leistungen bewilligt wurden. Da habe ich damals auf Facebook eine Spendensammlung organisiert.“
Bahnhofshelfer Mannheim: Ein Netzwerk, das bis heute hilft
Die sozialen Medien sind ihr mittlerweile das wichtigste Werkzeug: „Mir werden Haushaltsauflösungen angeboten, und ich versuche, Möbel oder Haushaltsgegenstände weiterzugeben. Ich schreibe dann Freundinnen an, leite es in WhatsApp-Gruppen weiter, und irgendjemand kennt immer jemanden, der was braucht.“
Seit der Ukraine-Krise haben sich die Strukturen verändert. „Am Bahnhof sind wir schon lange nicht mehr – seit 2022. Aber unser Netzwerk existiert weiter. Viele meiner alten Bahnhofshelfer helfen immer noch, jede auf ihre Weise.“
Viele von denen, die wir früher begleitet haben, sind inzwischen integriert.
Heute sei die Situation deutlich ruhiger. „Das Schlimmste ist vorbei“, sagt Orhan-Daibel. „Ich hab das Gefühl, es kommen einfach nicht mehr so viele Geflüchtete nach. Viele von denen, die wir früher begleitet haben, sind inzwischen integriert.“
Erfolgreiche iranische Großfamilie: „Geschichten, die mich motivieren“
Ein Erlebnis hat sich ihr besonders eingeprägt: „Eine iranische Großfamilie, die wir damals am Hauptbahnhof angetroffen haben. Wir haben die Nacht gemeinsam mit ihnen in einer Art Zelle der Bundespolizei verbracht, weil es keine Unterkunft gab“, so Orhan-Daibel. „Heute sprechen sie Deutsch, die Kinder machen Ausbildungen, die Eltern arbeiten.“
Solche Geschichten motivieren sie. „Ich habe viele positive Beispiele. Einer meiner Schützlinge arbeitet jetzt als Operations Manager bei Amazon. Wenn ich so etwas höre, dann weiß ich: Es hat was gebracht.“ Auch im Alltag begegnet sie „ihren“ Leuten. „Neulich in der RNV-Bahn hat mich ein syrischer Fahrkartenprüfer erkannt. Da geht mir das Herz auf.“
Neulich in der RNV-Bahn hat mich ein syrischer Fahrkartenprüfer erkannt. Da geht mir das Herz auf.
Auf die umstrittene Äußerung von CDU-Chef Friedrich Merz über das „Stadtbild“ reagiert Orhan-Daibel wütend: „Mir kommt dieser Satz vor, als würde er sagen, manche Menschen seien keine Menschen. Er wirkt, als ob er über Kakerlaken spricht. Als ob sie das Stadtbild verderben.“
Dann wird sie deutlicher: „Er soll mal froh sein, dass es hier Menschen gibt, die die Arbeit machen, die andere nicht machen wollen. Viele meiner syrischen und afghanischen Bekannten arbeiten in der Pflege. Wenn ‚wir alle‘ weg wären – wer würde sich dann um die alten Menschen kümmern? Wenn es soweit kommt, habe ich keine Panik. Dann bin ich gerne weg und beobachte von außen, wie das Deutschland ohne uns auskommt.“
Natürlich gibt es Probleme, aber das sind keine, die man mit Hetze oder populistischen Sprüchen löst.
Auch wenn Orhan-Daibel viel Positives berichtet, spricht sie offen über Probleme. „Natürlich gibt es Probleme, aber das sind keine, die man mit Hetze oder populistischen Sprüchen löst.“ Besonders schwierig seien Fälle von psychisch belasteten Geflüchteten. „Solche habe ich selbst gesehen. Etwa einmal ein junger afghanischer Mann – stark traumatisiert, unberechenbar. Ich habe das Pflegepersonal, das für ihn zuständig war, gewarnt: Er ist eine tickende Zeitbombe, wenn man ihn allein lässt.“
Sie fordert mehr Aufmerksamkeit für derartige Schicksale. „Solche Menschen müssen engmaschig betreut werden. Ich bin nicht naiv und sage: alles ist schön, alle tanzen miteinander. Es gibt Traumata, und keiner weiß, wann sie ausbrechen. Das muss man ernst nehmen und behandeln.“
Zum neuen Psychosozialen Zentrum für Geflüchtete in Mannheim sagt sie etwa: „So etwas hätten wir schon 2015 gebraucht. Mit solchen Anlaufstellen kann man viel retten – den Menschen selbst und auch der Gesellschaft.“
Ihr Engagement kommt nicht von ungefähr. „Meine Eltern kamen Ende der 60er-Jahre aus der Türkei. Mein Vater 1968, meine Mutter kurz danach. Damals lebten sie in einem Haus mit nur deutschen Mietern. Zwei alte Omis und eine Nachbarin – über 90 ist die heute – haben ihnen das Wort für Brot beigebracht, ihnen erklärt, wo sie Unterstützung bekommen. Diese Hilfsbereitschaft hat mein Leben geprägt.“
Ich mache das, weil ich merke, dass es was bringt. Wenn am Ende ein Problem weniger auf der Welt ist, hat sich alles gelohnt.
Darum hilft Orhan-Daibel bis heute. „Ich mache das, weil ich merke, dass es was bringt. Wenn am Ende ein Problem weniger auf der Welt ist, dann hat sich alles gelohnt.“
Wer helfen will, kann sich direkt an sie wenden – über Facebook oder per E-Mail (natice886@aol.com). „Ich weiß, wie es ist, wenn man helfen möchte, aber nicht weiß, wohin man sich wenden kann. Daher bin ich für alle offen. Ich weiß: So fangen viele Geschichten an – mit einer Nachricht, einem Sofa, einer Begegnung.“
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