Mannheim. „Wenn ich früher mit dem Betäubungsmittelrezept in die Apotheke bin, hieß es raunend ,Oh, ist es schon so weit?’“, sagt Thomas Sitte. Der Palliativmediziner erzählt: „Heute weiß man, je früher desto besser!“ ASB-Hospizkoordinatorin Christiane Pröllochs und -begleiterin Christine Dettmann neben ihm auf der Bühne nicken. Alle sind Gäste auf dem „MM“-Podium zum Welthospiztag. Thema: Hospizarbeit, Palliativmedizin.
Aber wer weiß in unserer Spaß- und Leistungsgesellschaft denn schon was zu diesen sperrigen Worten? Doch die Gäste auf dem Podium unter der Moderation von „MM“-Chefredakteur Karsten Kammholz sind echte Experten. Dem Tod begegnen sie oft. Und sie schaffen es durch ihre menschliche Art sofort, das Publikum in ihren Bann zu ziehen. Bei einem Thema, bei dem normalerweise jeder weghört, wegschaut oder wegschaltet.
"Bereich der Medizin, den wir nicht kennen"
„Palliativmedizin ist der Bereich der Medizin, den wir nicht kennen. Ja, Ärzte wie Nichtärzte kennen ihn gleichermaßen nicht“, erklärt Sitte provokant. Der Mediziner ist bekannt für seine scharfe Zunge („Bin nicht hier, um mir Freunde zu machen“) und er streut auch an diesem Abend reichlich Salz in die Wunden des Gesundheitssystems. Doch so ermöglicht er mit den anderen Gästen das, was es sonst nicht gibt: Einen Diskurs über die letzte Lebensphase.
Christiane Pröllochs betont im Saal der Abendakademie, die Kooperationspartner der Veranstaltung ist: „Sterben ist eine ganz wichtige Zeit im Leben.“ Diese Zeit solle „weder herausgezögert noch gestreckt werden und möglichst schmerzfrei sein.“ Tobias Wrzesinski, ebenso Gast auf dem Podium, weiß aus Erfahrung im engsten Familienkreis, wie wichtig frühe Palliativversorgung ist. Seitdem engagiert er sich in der Region ehrenamtlich zum Thema.
Wie werde ich Hospizbegleiter?
Von Orientierungsseminar bis "Letzte Hilfe-Kurs": Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, die als Hospizbegleiter wirken, sind auch in Mannheim gesucht. Zum Beispiel beim ASB (Interessierte finden hier Kontakt und Infos asb-rhein-neckar.de/unser-angebot/pflege-und-betreuung/ambulanter-hospizdienst/ und können sich unter 0621 72707-320 melden).
Hospizbegleiter können etwa:
- pflegenden Angehörigen etwas Freiraum ermöglichen,
- gemeinsam Musik anhören, etwas lesen oder einen Film anschauen,
- Natur erleben,
- gemeinsam schweigen,
- sterbenden Menschen helfen, letzte Anliegen zu erledigen,
- helfen, erlebte Schuld zu bearbeiten, sich zu versöhnen und sich oftmals selbst zu vergeben,
- helfen, Rückschau über das eigene Leben zu halten,
- helfen, Sich mit dem gelebten Leben oder einer Person zu versöhnen
- Dinge besprechen, mit denen man Angehörige nicht belasten möchte (manches geht mit Fremden leichter).
Die persönliche Erfahrung und eigene Fragen haben derweil auch viele Gäste in den Saal geführt. So sagt eine anwesende „MM“-Leserin: „Ich bin alleinstehend, gesund. Ich möchte den Fall der Fälle vorbereiten. Und ich habe Fragen: Ich habe etwa gelesen, man kann Infusionen bekommen. Aber da brauche man jemanden zuhause für diese Milderung, stand dort, alleine geht das nicht...“
"24 Stunden Rufbereitschaft"
„Wir haben rund um die Uhr Rufbereitschaft“, sagt Christine Dettmann. „Unsere SAPV-Teams sind ständig auf Abruf.“ „SAPV? Haben sie schon mal was davon gehört?“, sagt Arzt Sitte ironisch ins Publikum. „Aber das steht jedem zu, jede Krankenkasse zahlt das!“, betont er. „Die Teams sind da, wo die Regelversorgung versagt.
Eigentlich sollten sie on top helfen, jetzt bügeln sie die mangelhafte Versorgung aus.“ Pröllochs sagt: „Die SAPV-Teams können auch von Angehörigen gerufen werden. Diese werden von uns geschult. Damit sie wissen, was zu tun ist, wenn etwa ein Schmerzanfall oder eine Luftnotattacke kommt.“
Fataler „Drehtüreffekt“
„Nirgendwo wird so viel geschönt wie beim Thema Tod, auch medial“, sagt Sitte. „Danke, dass Sie dieses Podium machen“, sagt er und dreht sich in Richtung Kammholz. Er spricht dann über den sogenannten Drehtüreffekt, wenn Menschen in der letzten Lebensphase ständig von der Klinik ins Heim gefahren werden. Und vom Heim wieder zurück. Wenn sie ständig nur „unterwegs sind und dann manchmal im Transport sterben“, wie auch Pröllochs beschreibt. Doch es geht auch anders. „Wenn es in der Pflegeeinrichtung etwa einen Beauftragten für Palliatives gibt, dann wird das auch sehr wahrgenommen“, betont Dettmann. „Das ist sehr wichtig. Wir können da viel mehr machen.“
Aber nicht nur alte Menschen betrifft der Tod. Wie Wrzesinski zitiert, „hält der Tod die Reihenfolge oft nicht ein.“ Pröllochs erzählt, dass im Gespräch, wenn jemand jung sterbe, oft Fragen auftauchten, auf die es einfach keine Antworten gebe: „Warum ich?“, etwa. Aber „Raum zu geben, sie zu stellen“ lindere, sagt Pröllochs. Sie findet, dass unsere „gefühllose Gesellschaft“ gutes Sterben verhindert. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der Gefühle keinen Platz haben. Nur in der Partnerschaft und der Familie werden sie zugelassen. „Ansonsten reagieren Leute verstört und irritiert, wenn jemand mal traurig ist, laut schluchzt“.
Schöpft sterbende Person Verdacht?
Pröllochs berichtet von den Erstgesprächen am Anfang der Hospizbegleitung, für die sie zuständig ist. „Meistens fangen die Leute an zu weinen, wenn ich frage: Wie ist die Lage aktuell?“ Dies sei ein Ausdruck der Überforderung, des Tabus, der Trauer und auch der mangelnden Hilfe und fehlendem Raum in der Gesellschaft. Von Angehörigen kämen Fragen wie: „Sollen wir uns verabschieden? Schöpft sie da nicht Verdacht, dass es zu Ende geht, merkt sie das?“ Sitte ruft Pröllochs in ihren Redebeitrag zu: „Ja, sie merkt das!“ Pröllöchs nickt. Aber auch Fragen wie: „Was mache ich, wenn ich den toten Angehörigen finde eines Morgens? Kann ich da einen Herzinfarkt bekommen?“ kämen auf.
Es gebe wenige Palliativbetten, aber die ambulante Versorgung sei recht gut, betont die Ehrenamtliche derweil. Eben wie die des ASB. „Wir suchen Ehrenamtliche“, betont Pröllochs. Sitte sagt: "Frau Pröllochs und Frau Dettmann machen so eine extrem wichtige und gute Arbeit. Ich würde mich freuen, wenn alle, die im Saal sind, sich in der Hospizarbeit engagieren. Und noch anderen weitersagen, dass sie es auch tun!“
Diese Arbeit ist emotional fordernd und sicher nicht etwas für jeden. Aber es gibt lange Kurse, in denen man sie erlernen kann. Dettmann sagt: „Wenn ich eine Begleitung mache, dann ziehe ich meine Schuhe an der Tür aus und lasse auch mich draußen. Ich gehe da als neutrale Person rein.“ Manchmal bedeutet eine Begleitung auch nur da sein. Manchmal auch ganz viel reden. Ganz so, wie die Person es selbstbestimmt wünscht, betont auch Pröllochs.
Wie will ich sterben?
„Gehen Sie zu Sterbenden, die Ihnen nahestehen“, rät indes Sitte. „Machen Sie es. Abschiednehmen ist für beide Seiten extrem wichtig.“Dettmann sagt: „Leider findet sich auch hier das Tabu wieder. Die Kinder etwa dürfen heutzutage nicht mehr trauern. Werden abgeschirmt. Ich werde komisch angeguckt, wenn ich frage, ob fünf oder sechsjährige Kinder zur Beerdigung der Großmutter kommen.“ Sitte nickt: „Allein diese Redewendung ,Von Beileidsbekundungen am Grab bitten wir abzusehen‘. Ich bitte Sie, machen Sie das raus, schreiben Sie das nicht in Todesanzeigen. Wann, wenn nicht dort soll man denn kondolieren?!“, sagt er mit Nachdruck. „Und wer hier im Raum weiß noch, wie man einen Kondolenzschreiben schreibt?“ „Die Botschaft beim Sterben ist klar: Wir sind nicht mehr zuständig, der Staat soll es richten - tut er aber nicht“, sagt Sitte weiter.
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„Gut, dass es die gibt…“, hört man im Publikum ein Flüstern. Dettmann führt derweil aus: „Ich habe in den langen Jahren, die ich das mache keinen großen Sterbekampf erlebt. Alle Menschen konnten ruhig gehen.“ Zum Schluss möchte Karsten Kammholz wissen: Wie möchten die Podiumsgäste sterben? „In Ruhe und nach einem innigen Abschied von den Lieben“, hört man.
Aber auch in der Natur, etwa „im Garten“ stellt sich schnell heraus, sagt einigen zu. Sitte ist sehr konkret. Er schildert den Fall einer Patientin. „Sie wog noch rund 35 Kilogramm. Es war ein schöner Julitag“, sagt Sitte. „Und sie sagte zu mir: ,Ich möchte gerne raus.‘ Alle sagten: ,Nein das geht nicht.‘ Ich nahm sie und trug sie auf die Liege in den riesigen Garten. Sie bat mich ihr eine Zigarette anzuzünden. Das tat ich. Dann lag sie dort und war einige Stunden später verstorben.“
Den Tod transparenter machen
Die Gäste haben am Ende der Veranstaltung noch die Möglichkeit Fragen zu stellen, auch im persönlichen Gespräch, was viele wahrnehmen. Beim Rausgehen sagt eine Frau zu ihrem Mann: „Es war eine super Mischung da auf der Bühne, und nicht nur ,schrecklich, schrecklich’“. Es scheint, als habe das Podium sein Ziel ein Stück erreicht - und unser aller Angstthema, das Lebensende, mit seiner großen Unbekannten "Tod" transparenter gemacht.
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