Mannheim. Annalena Wirth ist ein Beispiel für die Grenzen Künstlicher Intelligenz. Eine KI nennt auf die Frage, wer Deutschlands jüngste Ortsvereinsvorsitzende ist, die Mannheimerin. Diesen Titel hatte der Sozialdemokratin die „Zeit“ verliehen. Doch das tat die Wochenzeitung schon 2020. Und die Mitgliederdateien der Parteien sind nicht online abrufbar. Man müsste alle, wie die „Zeit“ damals, nach ihren Jüngsten abfragen. Solange das niemand macht, wird Wirth ihr Etikett so schnell nicht los.
„Aber ich bin definitiv nicht die Jüngste, schon lange nicht mehr“, sagt die 24-Jährige und nippt an ihrem Cappuccino. Allein in ihrer eigenen Partei kenne sie einige jüngere Ortsvereinsvorsitzende. Darüber sei sie auch froh. „Ist doch prima, wenn wir in der Politik nicht nur ältere Männer mit Doktortitel haben.“ Wirth rückte schon mit 23 in den Gemeinderat nach. Der Grund für dieses Treffen in einem Café auf dem Lindenhof – ihrem Stadtteil.
Annalena Wirth aus Mannheim: Auf dem vierten Listenplatz das zehntbeste SPD-Ergebnis
Bei der Kommunalwahl im Juni 2024 fungierten Wirth und Kai-Uwe Herrenkind, Wahlkreis-Büroleiter der Bundestagsabgeordneten Isabel Cademartori, quasi als Speerspitzen der jungen Wilden in der SPD. Die Jusos nominierten sie als Spitzenkandidaten und forderten für beide Listenplätze unter den ersten Zehn.
Das begeisterte den Kreisvorsitzenden Stefan Fulst-Blei und andere Etablierte weniger. Vor und nach dem Wahlkampf flogen bei den Sozialdemokraten die Fetzen. In den Gemeinderat schafften es aber weder Wirth auf dem vierten noch Herrenkind auf dem siebten Platz. Darüber soll manch Älterer gar nicht so traurig gewesen sein.
Wirth sagt jedoch, sie sei mit ihrem Abschneiden zufrieden. Mit damals 22 Jahren und nur rund 100 Stimmen weniger als Fulst-Blei habe sie das zehntbeste Ergebnis ihrer Partei geholt. Wie 2019 Cademartori, die ebenfalls auf Platz vier kandidierte. Anders als die sei sie lediglich nicht auf Anhieb Stadträtin geworden, weil die SPD nicht mehr zehn, sondern nur noch neun Sitze habe.
Mittlerweile scheint der Konflikt zwischen Jusos und Establishment befriedet. Diesen Eindruck bestätigt Wirth. Die Fraktion habe sie herzlich aufgenommen. Mit Samantha Höß (28), Karim Baghlani (34) und Melanie Seidenglanz (41) gebe es darin ja auch noch mehr Jüngere. Gleichwohl hat sie den Altersschnitt auf einen Schlag um drei Jahre auf 51 gesenkt, als sie Anfang Mai für Nazan Kapan nachrückte.
Deren überraschender Tod habe sie total geschockt, berichtet Wirth. Die Nachfolge anzutreten, auch als sozialpolitische Sprecherin der SPD, sei schwer. „Nazan hat sehr, sehr große Fußstapfen hinterlassen. Ich habe mir vorgenommen, mit der gleichen Leidenschaft reinzugehen.“
Dafür hat sie keine leichte Zeit erwischt. Die städtische Finanznot zwingt überall zu schmerzhaften Kürzungen. Wirth wünscht sich, dass weniger mit der Rasenmäher-Methode gespart wird. Man dürfe das Gestalten nicht vergessen. Auch mit neuen Einnahmequellen, etwa eine Verpackungssteuer.
Als politisches Vorbild nennt Annalena Wirth Michelle Obama
In die SPD ist die gebürtige Mannheimerin 2017 eingetreten, um sich gegen Hass und Ausgrenzung zu engagieren. Wichtig sei ihr zudem, dass bei den dringend nötigen Maßnahmen zum Klimaschutz die „normalen Leute“ nicht zu stark belastet würden. Auch bei der Bildung müsse es weiter Chancengleichheit geben. „Als Tochter einer Alleinerziehenden hätte ich ohne Stipendium nie studieren können.“
Gerade hat Wirth das erste Staatsexamen in Jura hinter sich. Das Treffen mit dem „MM“ ist einer von mehreren Terminen an diesem Tag. Weil kaum Zeit für Essen bleibt, bestellt sie zum Cappuccino ein Stück Karottenkuchen. Das macht es für sie schwierig, weil sie weder mit vollem Mund sprechen noch erst nach langem Kauen antworten will. Aber Wirth bekommt das sicher hin.
Als sie ihren Studienschwerpunkt nennt, führt das Gespräch zu einer Namensvetterin, die auch „vom Völkerrecht herkommt“ und nun Präsident der UN-Generalversammlung ist. Politisch teilt Wirth zwar nicht alle Ansichten der Grünen, aber gut findet sie Annalena Baerbock. Die Häme etwa für deren kürzlich gepostete Fotos und Videos kann die Sozialdemokratin nicht nachvollziehen. „Wenn ich in New York wäre, würde ich auch Bilder machen.“
Wirth nennt noch eine zweite Frau aus einer anderen Partei, die ihr trotz politischer Unterschiede gefällt: Angela Merkel. An der früheren CDU-Kanzlerin schätze sie „die Ehrlichkeit und die nicht bedingungslos unkritische Haltung gegenüber der eigenen Partei in den letzten Jahren“.
Auf die Frage nach ihrem politischen Vorbild entgegnet die 24-Jährige: „Wenn ich jetzt Michelle Obama sage, ist das langweilig, oder?“ Nach längerer Bedenkzeit bleibt sie indes bei der einstigen US-„First Lady“. Wirth nennt sie eine „starke Juristin, Feministin und laute Stimme gegen Ungerechtigkeiten“.
Zum Abschluss geht es noch fürs Foto an den Rheindamm. Auch den Ort hat die Stadträtin mit Bedacht gewählt. Hier habe sie 2017 angefangen, sich gegen den drohenden Abriss unzähliger Bäume zum Hochwasserschutz einzusetzen. Und dass es der Bürgerinteressen-Gemeinschaft vom Lindenhof im Verbund mit Lokalpolitikern offenbar gelungen sei, den Kahlschlag abzuwenden, zeige doch eines: Mit beharrlichem Engagement lasse sich was erreichen. Und natürlich mit Leidenschaft, wie sie Nazan Kapan hatte.
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