Mannheim. Schon recht früh, nachdem im Internet verstörende Szenen von der Messerattacke in Mannheim kursierten, machte sich bei den Menschen in der Stadt ein diffuses Gefühl breit. In vielen Gesprächen kurz nach der Tat haben sie uns gespiegelt: Dieser Fall ist anders, dieses Verbrechen macht etwas mit uns, in ganz neuer Art und Weise. Unter denen, die von diesem Gefühl berichteten, waren auch erfahrene Juristen und Menschen, die im Opferschutz engagiert sind. Teilweise haben sie die schwersten Verbrechen, die unsere Region in den vergangenen Jahren zu beklagen hatte, ganz eng begleitet. Und diese Menschen sagten: Ich kann das nicht fassen, ich habe geweint.
Ähnliches lässt sich auch am Verhalten der Menschen in der Stadt ablesen: Am Montag nach der Tat haben sich 8000 Männer und Frauen auf dem Marktplatz versammelt - tief bewegt standen sie zusammen, weil ihnen dieses Verbrechen besonders nahe geht. Sie kamen an den Ort, über dem seit anderthalb Wochen ein spürbarer Schmerz liegen. Warum ist dieses Verbrechen derart schwer zu ertragen? Lässt sich das rational in irgendeiner Art und Weise fassen?
Messerattacke auf Mannheimer Marktplatz: Tat greift über den Ort auf die Stadtgemeinschaft über
Ein Trauma ist eng verbunden mit dem Ort, an dem etwas passiert ist, sagt Andreas Meyer-Lindenberg. Der Psychiater ist Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit, das sich nur sieben Gehminuten vom Marktplatz entfernt befindet. Auch er stellte sich am Montag nach der Tat auf den Platz zu den anderen. Über diesen Ort, den die Menschen in der Stadt gut kennen, an dem sie sich oft aufhalten, greife die Tat in gewisser Art und Weise auch auf die Stadtgemeinschaft über, sagt der Psychiater.
Tatsächlich scheint diese entsetzliche Tat uns alle in einen Kokon aus gefühlsbetonten Eindrücken einzuhüllen. Viele von uns haben das Video von der Tat gesehen, das den Tod des 29-jährigen Polizisten Rouven Laur im Bild festhält. Aus der Forschung wisse man, dass Video- oder Filmaufnahmen von Gewalttaten Menschen stärker mitnehmen und psychisch belasten als Berichte in Textform, sagt Meyer-Lindenberg.
Wissenschaftliche Arbeiten zeigen indes, dass Gewalttaten, die von Menschen verübt werden, uns stärker traumatisieren als Naturkatastrophen. Terroranschläge, ein mutmaßlicher Terrorakt wie die Mannheimer Messerattacke, wirken noch intensiver, weil nicht der eine Mensch Zielscheibe eines Verbrechens ist, sondern die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ausschlaggebend ist. Daher sagen sich viele: „Das hätte auch mir passieren können.“
Ein Verbrechen, das von außen in die Stadt getragen wurde
In Mannheim leben knapp 310 000 Menschen. Und natürlich gibt es in einer Großstadt wie Mannheim Kriminalität, immer wieder sind darunter Fälle, die schockieren oder tief bewegen. Alexander Schwarz war bis 2020 Leiter der Mannheimer Staatsanwaltschaft, aktuell bekleidet er das Ehrenamt des Landesopferbeauftragten und koordiniert unter der Federführung des Bundesopferbeauftragten in Berlin Hilfsangebote für die Betroffenen der Messerattacke.
Viele Mannheimer Verbrechen hat Schwarz aus unmittelbarer Nähe mitbekommen. Doch das, was am 31. Mai passiert ist, habe eine neue Dimension, für Mannheim, für das Land Baden-Württemberg, für die ganze Bundesrepublik, sagt er. Ein Mensch habe einen Angriff auf einem öffentlichen Platz verübt, auf dem die Meinungsfreiheit gelte - egal, ob die geäußerte einem gefalle oder nicht -, und er habe dabei einen Polizisten getötet. Einen Polizisten, der die Meinungsfreiheit schützen wollte - „der stellvertretend für uns diese Meinungsfreiheit schützen wollte“. Dieses Verbrechen rührt auch deshalb so tief etwas in uns an, weil die Messerattacke ein Angriff auf Werte darstellt, auf denen unser demokratisches Zusammenleben basiert.

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Die Messerattacke ist ein Verbrechen, das von außen in die Stadt getragen wurde. Mit seiner politischen Dimension und den politischen Instrumentalisierungsversuchen danach. Mannheim war tagelang das zentrale Nachrichtenthema im ganzen Land und auch internationale Medien berichteten über den Fall. Bundeskanzler Olaf Scholz hat eine Regierungserklärung aufgrund des Messerangriffs abgegeben. Das ist in der jüngeren Mannheimer Geschichte einmalig. Und die Anwesenheit des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier während der Schweigeminute verdeutlicht, wie schwer diese Tat wiegt.
Ihre Bedeutung lässt sich auch daran erkennen, dass die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen führt, sie von der Staatschutzabteilung in Karlsruhe übernommen hat. Die Behörde hat die Stadt in den vergangenen Jahren nur am Rande gestreift, bei bundesweiten Razzien und Ermittlungen gegen in Mannheim lebende Menschen - etwa wegen Verbrechen im IS-besetzten Gebiet oder gegen einen ruandischen Milizenführer, der zeitweilig in Mannheim lebte. Nur, wenn es um schwerwiegende Fälle im Staatsschutz, um die innere und äußere Sicherheit geht, zieht die Bundesanwaltschaft Fälle an sich. Wie diesmal.
Die außergewöhnliche Persönlichkeit Rouven Laurs
Und so lässt sich dieses diffuse Gefühl, das uns von Anfang an beschlichen hat, zwar nicht konkret fassen, aber doch nachvollziehen. Was dieser Fall mit uns macht, die Schwere, die Angst, die tiefe emotionale Betroffenheit - all das lässt sich über psychologische Wirkmechanismen erklären, über unser freiheitlich-demokratisches Selbstverständnis, das schwer erschüttert wurde, über die überregionale und politische Bedeutung eines Geschehens, das sich hier bei uns ereignet hat, vor unser Haustür, und das im Live-Stream ins Netz übertragen wurde.
Der vielleicht wichtigste Grund, warum uns dieses Verbrechen nicht loslässt, liegt in der Persönlichkeit Rouven Laurs begründet, von dem sich in den vergangenen Tagen viele gewünscht hätten, sie hätten ihn kennenlernen dürfen. Rouven Laur erzählte seiner Mutter kurz vor dem Attentat, dass in Mannheim diese Veranstaltung von „Pax Europa“ stattfinden würde und er zur Sicherung dort sei. Den Auftritt von Michael Stürzenberger empfand Rouven Laur als Provokation. Der 29-jährige Polizist starb, als er das hohe Gut der Meinungsfreiheit schützen wollte, obwohl er die geäußerte Meinung nicht guthieß, so hat es der Bürgermeister seiner Heimatgemeinde Neckarbischofsheim bei der Trauerandacht erzählt.
Und ausgerechnet Rouven Laur starb durch die Hand eines Menschen, der sich offenbar radikalisiert hatte und mutmaßlich aus religiösen Motiven heraus agierte. Der Rouven Laur, der Arabisch an der Volkshochschule lernte, um besser mit den Menschen kommunizieren zu können, mit denen er arbeitete. Die, die ihn gut kannten, beschreiben ihn auch als Inbegriff eines guten Menschen, der absolut gar nichts mit Spaltern anfangen konnte. Ausgerechnet er, der ein so großer Fan unseres Grundgesetzes und der Integration war, starb zwischen Spaltern auf diese bestialische Art und Weise.
Diese Tragik ist kaum auszuhalten und so können wir nur hoffen, dass sein Tod nicht umsonst gewesen sein möge.
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