Mannheim. Der Polizistenmord an Rouven Laur auf dem Marktplatz erschüttert die Republik. In Polizeikreisen hat das Video der Tat sogar weltweit für Aufsehen, Anteilnahme, aber auch Alarmbereitschaft gesorgt, berichtet Jochen Kopelke. Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) ist zur Gedenkminute aus Berlin nach Mannheim gereist, und er weiß: Das ist einer der seltenen Momente, in denen die Einsatzkräfte sich von ihrer verletzlichen Seite zeigen. Für das Gespräch mit dem „MM“ nimmt sich der Polizeioberrat die Zeit, um aufzuzeigen, warum der einstige Traumjob gerade sehr gefährlich und ein Messerangriff so lebensbedrohlich ist. Er kritisiert, dass ein Polizeileben in Baden-Württemberg weniger wert sei als im Rest von Deutschland.
Herr Kopelke, wie geht es Ihnen und Ihren Kollegen nach der schrecklichen Nachricht über den Tod von Rouven Laur?
Jochen Kopelke: Der Verlust eines Kollegen löst sofort große Betroffenheit aus und bewirkt sofort ein anderes Verhalten von Polizistinnen und Polizisten. Sie schärfen ihr Mindset. Fragen sich plötzlich genau: Wo bin ich gerade? Auf wen kann ich treffen? Was kann mir hier widerfahren? Wen muss ich schützen? Das ist ein Automatismus und auch ein Reflex. Und der ist gut. Der sichert das Überleben, weil wir natürlich bestimmte Menschen erleben, die Trittbrettfahrer sind. Insofern ist es richtig, dass wir diesen Reflex haben. Aber das Wichtigste, was wir Polizistinnen und Polizisten hinter verschlossener Tür machen, ist: darüber sprechen.
Wie besonders ist dieser Moment der gemeinsamen Trauer für die Beamten?
Kopelke: Das ist ein Einblick, den wir fast nie der Gesellschaft gewähren. So verletzlich zeigen wir Polizistinnen und Polizisten uns selten. Wir lassen sonst wenig Einblick in unser Seelenleben zu, weil wir jeden Tag professionell arbeiten müssen, zu jeder Uhrzeit. In Uniform sind wir zur Neutralität verpflichtet, und wir begeben uns in Situationen, wo andere weglaufen dürfen. Deswegen brauchen wir einen professionellen Schutzschild um uns herum. Aber gerade zur Gedenkminute in Mannheim lassen wir den einmal herunter. Und darüber sprechen wir. Das ist ganz wichtig, weil das junge Polizisten brauchen, genauso wie lebensältere oder welche, die kurz vor der Pension stehen.
Ist auch das Video, das die brutale Attacke zeigt, ein Thema?
Kopelke: Alle haben dieses schreckliche Video gesehen. Nicht nur in Mannheim, überall in Deutschland. Ich war zur Tatzeit selbst gerade in Los Angeles bei der Polizei und wurde von Kolleginnen und Kollegen darauf angesprochen. Also auf der ganzen Welt wurde dieses Video gesehen. Das liegt an der schrecklichen Social-Media-Kultur. Taten, Videos, alles wird immer gleich verbreitet. Die Anteilnahme, die uns zum Beispiel in der Gewerkschaft der Polizei erreicht, ist tatsächlich weltweit. Mir schreiben Kolleginnen aus allen europäischen Nachbarstaaten.
Dass solche Videos online zu sehen sind, ist das ein Fluch und ein Segen?
Kopelke: Solche Videos sehen auch viele Kinder, die abstumpfen. Und wir sehen, dass über Social Media sich Menschen radikalisieren und zu Extremisten, sogar zu Terroristen werden. Das ist nachweisbar. Forschungen belegen das. Also, das wird eine heftige Debatte, die da geführt werden muss. Weil wir in der Regel erst zu spät auf den Plan gerufen werden.
Nach der Attacke des jungen Afghanen debattiert die Bundespolitik nun über Abschiebungen nach Afghanistan. Wäre es nicht wichtig für alle Beamten, jetzt zu wissen, wie sie sich auf der Straße besser schützen können?
Kopelke: Die Mannheim-Tat hat eine unfassbare Strahlwirkung auf die gesamte Republik. Und zwar nicht nur im Abschiebe-Kontext und in den Debatten zur Migration, sondern insbesondere darüber, was eigentlich in unserer Gesellschaft los ist. Da muss man mal wieder an die Schulen, um zu erklären, was Extremismus bedeutet.
Was würden Sie sich wünschen, was dieser Fall verändern könnte?
Kopelke: Wir sehen, dass die Absicherung von Beamtinnen und Beamten im Polizeibereich in Baden-Württemberg anders ist als in allen anderen Bundesländern.
Jochen Kopelke
- Jochen Kopelke startet 2005 seinen Dienst bei der Polizei und tritt im selben Jahr noch in die Gewerkschaft der Polizei (GdP) ein. Von 2008 bis 2014 ist er in der Bereitschafts- und Schutzpolizei Bremen tätigt und wechselt 2017 ins Landeskriminalamt Bremen. Es folgt der Aufstieg in den höheren Dienst, dann der Job als Büroleiter und Referent beim Bremer Senator für Inneres.
- Seit September 2022 ist Kopelke GdP-Bundesvorsitzender und zuständig unter anderem für Grundsatzfragen, Polizeiforschung, Arbeitszeit und Gesellschaftspolitik. lia
Inwiefern anders?
Kopelke: Die Hinterbliebenen-Beiträge für im Dienst Verstorbene sind in Baden-Württemberg anders als bei der Bundespolizei oder in Bayern – nämlich niedriger. Hier ist ein Polizeileben in der Beamtenrechtswelt und Finanzwelt weniger wert als woanders. Das geht nicht. Wenn man den Betrag hochsetzt, hilft das den Hinterbliebenen.
Was wünschen Sie sich für die Polizisten selbst?
Kopelke: Egal, ob es eine schreckliche Messertat, die Ermordung eines Polizisten oder eine andere Tat ist: So richtig ändert sich hier in Deutschland gerade gar nichts. Wir führen keine Runden Tische ein, sprechen nicht über die Stärkung des Schul- und Bildungssystems, über Kriminalität auf Schulhöfen und frühkindliche Bildung. Über Ansätze also, die erwiesenermaßen dazu beitragen, die Gesellschaft positiv zu verändern, damit in der Schule mehr gebildet wird und die Polizei weniger Extremismus im Dienst erfährt. Unser größter Wunsch: Dass die Bundesregierung einen klaren einheitlichen Kurs fährt, um die innere Sicherheit zu stärken.
Aktuell sind viele junge Menschen bei der Polizei. Man kann ihnen nun kaum verübeln, dass sie zurückhaltender werden und weniger Risiko eingehen wollen. Wie wirkt man dem entgegen?
Kopelke: Es ist nur menschlich, dass man vielleicht denkt, man könnte der oder die Nächste zu sein. Jetzt kommt es auf die Führungskräfte in der Polizei an, die ein offenes Ohr und Hilfe anbieten müssen. Ich selbst habe das erlebt, als ich mal Opfer von Gewalt im Dienst wurde. Schwerstverletzt habe ich mich immer gefragt, was ich hätte besser machen können. Dann habe ich die Situation nachgestellt mit Kollegen und bin zur Erkenntnis gekommen: Egal, was ich gemacht hätte, ich hätte es nicht verhindern können.
Der Kollege, der versucht hat, Laur zu retten, stellt sich wohl exakt dieselbe Frage. Er und seine 30 Kollegen sind freigestellt, müssen nicht in den Einsatz zu den aktuellen Demos. Das ist eine schwere Last, die man da trägt, oder?
Kopelke: Früher war das nicht üblich, dass man aus dem Dienst genommen wurde. Da musste man direkt wieder in den Einsatz. Heute ist das zum Glück anders, es gibt psychologische Betreuung. Das schützt Beamte davor, nicht nach 40 Dienstjahren eine posttraumatische Belastungsstörung zu erleiden. Aber das geht nicht überall, weil solche Kapazitäten einfach nicht vorhanden sind. Das müssen wir ändern.

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Dass deutsche Polizisten im Einsatz sterben, ist selten. Zuletzt im rheinland-pfälzischen Kusel. Heute wirkt es so, als wäre der Job als Polizist so gefährlich wie nie.
Kopelke: Die Analyse des Bundeskriminalamts ist eindeutig. Wir erleben auf den Straßen auch einen anderen Umgang mit Gewalt. Die Corona-Pandemie hat viel kaputt gemacht im sozialen Umgang miteinander. Es gibt ein hohes Eskalationspotenzial und viel Körperverletzungsdelikte. Das bedeutet im Umkehrschluss: Ja, der Polizeiberuf ist zurzeit sehr gefährlich, weil so viele Menschen zurzeit zu Gewalt neigen.
Das Attentat in Mannheim wirft einen großen Schatten auf den Traumberuf Polizistin …
Kopelke: Sicherlich wird dieser Mord eine Wirkung haben in den Familien, so dass weniger Menschen sich für diesen Beruf bewerben. Das finde ich sehr schade, aber es ist nachvollziehbar.
Warum haben so viele ein Messer in der Tasche, ist das ein Mannheim-Problem?
Kopelke: Nein. Das ist ein bundesweiter Trend. Besonders bei Jugendgruppen ist das Messer Mittel der Wahl, um anzugeben. Die kommen leider nun regelmäßig zum Einsatz. Überwiegend handelt es sich bei Tätern um Männer im Alkohol- oder im Drogenkontext. In der aktuellen Situation suchen auch mehr Menschen nach Sicherheit und bewaffnen sich – es gibt immer mehr Anträge für den kleinen Waffenschein.
Wäre da nicht eine bessere Schutzausrüstung bei der Polizei wie ein Nackenschutz sinnvoll?
Kopelke: Es gibt entsprechende Schutzmöglichkeiten, etwa stichfeste Tücher oder Stichschutz unter dem Hemd – das prüfen wir jetzt. Aber der Spagat ist wieder da. Bürgernahe Polizei bedeutet eben nicht, mit Helm und voller Schutzweste und Beinschonern in der Innenstadt zu fragen: „Wie geht es Ihnen heute?“ Wer das Vertrauen der Stadtgesellschaft hat, wird auch angerufen – und zwar vielleicht schon vor der Tat. Die Balance muss man halten. Für die Tat hier in Mannheim brauchen wir aber keine Taser-Debatte, der hätte hier nichts genützt.
Weil sich hier zeigt, wie gefährlich ein Messer sein kann?
Kopelke: Der Einsatz eines Messers ist in der Regel immer eine Gefahr für Leib oder Leben. Das ist das Schlimmste, was passieren kann. Gerade wenn gestochen wird mit spitzen Messern, mit doppelseitiger Klinge, dann wird es lebensgefährlich. Oder, wie wir es jetzt gesehen haben, tödlich. Dafür gibt die entsprechende Rechtsgrundlage, die sofort ermöglicht, dass wir die Pistole ziehen und schießen dürfen.
Was sind eigentlich die gefährlichsten Einsätze für Polizisten in Deutschland?
Kopelke: Die gefährlichsten Einsätze, statistisch und auch wissenschaftlich erwiesen, sind Einsätze im Kontext der häuslichen Beziehungsgewalt für Polizisten.
Das heißt, wenn Polizisten fremde Wohnungen betreten?
Kopelke: Genau. Denn der Solidarisierungseffekt ist aus Erfahrung groß: Man ist zum Beispiel in einer Küche, es fliegen Flaschen, es gibt Streit, herrscht viel Emotionalität, also auch ganz starkes, irrationales Verhalten. Täter und Opfer kennen sich, leben oft zusammen. Sobald die Polizei auftaucht, kippt plötzlich die Perspektive, und sie sehen die Polizei als Feind in der eigenen Wohnung. Dazu gibt es Forschung aus Niedersachsen, die gerade hier das höchste Gefahrenpotenzial ermittelt hat, was auch Umfragen innerhalb der Polizei bestätigen.
Die Attacke auf dem Marktplatz galt dem Anti-Islam-Aktivisten Michael Stürzenberger, der schon Polizisten beleidigt hat und deshalb verurteilt wurde. Nun will seine Organisation „Pax Europa“ erneut in NRW auftreten und verlässt sich darauf, dass die Polizei sie schützt. Ist es nicht schwer zu ertragen, als Polizist auch solche Menschen beschützen zu müssen?
Kopelke: Wir schwören einen Eid aufs Grundgesetz und die jeweilige Landesverfassung. Den Schwur meinen wir ernst. Von außen betrachtet gibt es oft Einsätze, wo man kaum verstehen kann, wie man so etwas als Polizist schützen kann. Wie etwa Rechtsextremisten oder Koranverbrennungen. Aber genau das ist unser Beruf, unsere Mission. Den Menschen zu ihren Grundrechten zu verhelfen. Das gehört zu unserem Berufsethos. Aber man muss sich damit auch auseinandersetzen. Gerade bei den Castortransporten oder bei Klimaprotesten haben Polizisten ihre eigene Meinung. Aber der Dienstalltag sagt: Deine Meinung muss zurücktreten. Wichtiger ist der Schutz der Grundrechte, die Neutralität. Da sind wir jeden Tag gefordert und meistern das auch gut.
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