Stechender Zigarettenqualm steht in der Luft, eine Waschmaschine läuft, ein überquellender Koffer, Plastikwannen und Wäscheständer stehen herum, unter dem Tisch liegt ein Hund auf einer Decke: Nichts erinnert hier an eine Frisörsalon. Und doch bekommen die anwesenden Männer und Frauen an diesem ungastlichen Ort, in der Waschküche des Mannheimer Drogenvereins in K3, eine neue Frisur. Der Frisör, Yahya Ekhthiari, gibt den schwer Opiat- und Heroinabhängigen an diesem Nachmittag viel mehr als nur einen Gratis-Haarschnitt. Diese Menschen, die gerade am Tiefpunkt ihres Lebens stehen, erfahren Wertschätzung und Würde.
Wie es sich anfühlt, ganz unten zu sein, das weiß Yahya aus eigener Erfahrung: Seine Kindheit und Jugend verbringt er mit seinen Eltern und Geschwistern auf der Suche nach Arbeit und Lebensmöglichkeit zeitweilig in Afghanistan, meist aber im Iran. Dort können seine Eltern ihm einen für Afghanen kostenpflichtigen Schulbesuch aus finanziellen Gründen nicht ermöglichen.
Über den Drogenverein
- Der Drogenverein Mannheim bietet Beratung, Therapie, Prävention und Hilfe zum Überleben.
- Die erste vereinseigene Planstelle für eine Diplompsychologin in der Jugend- und Drogenberatungsstelle wurde im Mai 1977 eingerichtet.
- 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter helfen drogenabhängigen und drogengefährdeten Menschen in Mannheim.
- Der Kontaktladen „Kompass“ befindet sich in K 3, 11-14.
Er gehört der ethnischen Gruppe der Hazara an und kommt 2015 als Flüchtling nach Deutschland. Heute sind die Hazara als politische Flüchtlinge anerkannt, 2016, als Yahya sich um Asyl bewirbt, sind sie es noch nicht. Er ist gerade 18 Jahre alt, als er in Deutschland ankommt; auch seine Volljährigkeit verschlechtert seine Chancen auf ein Bleiberecht. „Ich hatte keine Schulbildung, konnte kaum die eigene Sprache schreiben und kein Wort Deutsch“, berichtet Yahya. Jetzt hat er eine abgeschlossene Ausbildung als Frisör, nicht aus Verlegenheit, sondern aus tiefer Überzeugung, und sagt in fließendem Deutsch: „Ich möchte in irgendeiner Weise etwas zurückgeben.“
Angst vor der Abschiebung
Bis sich sein Leben zum Guten wendet, ist es jedoch ein schwieriger Weg. Aber er hat Helfer in der Not. Yahya lebt zunächst zusammen mit 400 anderen Männern in einer Fabrikhalle von Heidelberger Zement in Leimen, damals eine Erstunterbringung für Geflüchtete. Dann sollen 140 der Männer in eine Gemeinschaftsunterkunft nach Malsch bei Wiesloch verlegt werden. Wie in vielen anderen kleinen Orten auch, lehnt die Bevölkerung die Geflüchteten ab und organisiert eine Bürgerversammlung.
Ehrenamtliche des Asylkreises Malsch wollen dieser Ablehnung etwas entgegensetzen, unter ihnen Alexander Sendler und Tessie Voget-Sendler. Die beiden übernehmen die Unterstützung der Geflüchteten in einem der Zimmer, versuchen, ihnen beim Lernen der Sprache zu helfen und einen Ausbildungsplatz zu finden; denn eine Ausbildung verbessert ihre Chancen aufs Bleiberecht. Yahya ist der erste der 140 Geflüchteten, dessen Asylantrag vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt wird. Er braucht nun ganz dringend einen Ausbildungsplatz. Die Angst vor der Abschiebung sitzt ihm ab diesem Zeitpunkt täglich im Nacken.
Dunkelblonde Haare fallen zu Boden. Yahya schneidet, rasiert und benutzt zum Schluss die Effilierschere, um der Frisur den letzten Schliff zu geben. Der Mann auf dem Stuhl mit dem unsteten Blick- ob er gerade high oder nur unruhig ist, weil er bald schon seinen nächsten Schuss braucht, ist nicht klar - grinst. Er kann sich zwar nicht anschauen beim Haareschneiden - der Spiegel hängt ein Stückchen weiter über dem Waschbecken -, doch er lächelt glücklich. „Ich habe mich sofort eingetragen, als ich gelesen habe, dass der Frisör wieder kommt. Ich wollte der Erste sein.“
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Im November hat Yahya ihm und anderen Suchtkranken im Kontaktladen des Drogenvereins schon einmal kostenlos die Haare geschnitten. Heute stehen sie Schlange. Yahya möchte gern jeden Monat wiederkommen, um den Drogenabhängigen zu helfen. „In Deutschland gibt es auch Leute, die kein Geld und keine Wohnung haben. Wenn man selbst in der Situation ist oder war, versteht man das.“
Praktikumsplatz in Heidelberg
2016 hat Yahya „kein Geld für nichts“, wie er sagt, auch nicht für den Frisör. Zu viert kaufen sich die Geflüchteten eine Haarschneidemaschine für 20 Euro. Alle finden, dass die von Yahya geschnittene Frisur die beste sei - und das gleich beim ersten Versuch. Er bekommt schließlich mithilfe des Ehepaars Sendler einen Praktikumsplatz bei einer iranischen Friseurin in Heidelberg. Zu diesem Zeitpunkt spricht er weiterhin kein Deutsch, kann sich mit der Iranerin aber auf Persisch unterhalten. „Nach einer Woche sollte ich auch mal eine Schere halten. Sie dachte, ich hätte schon mal als Frisör gearbeitet - ich hatte wohl Talent und durfte bei ihr eine Ausbildung anfangen“, sagt der heute 26-Jährige. Die Ausbildung scheitert jedoch zunächst an der sprachlichen Barriere: In der Berufsschule versteht Yahya kein Wort.
Die Sendlers helfen, wo sie können, finden aber für ihn keinen Platz in einem Sprachkurs. Also macht er ein Fachschuljahr, um Deutsch zu lernen. Tessie Voget-Sendler lernt mit Yahya für die Prüfung und engagiert Nachhilfelehrer für ihn und fünf weitere Afghanen. Erst danach macht er mit der Ausbildung weiter, immer mit der Angst vor der Abschiebung im Rücken. 2021, mitten in der Pandemie, schließt er seine Ausbildung zum Frisör ab.
Alexander Sendler und Tessie Voget-Sendler sind stolz auf das, was Yahya trotz all der widrigen Umstände erreicht hat. Sie bleiben während der ganzen Frisöraktion im Kontaktladen des Drogenvereins und erzählen von ihrem Schützling, während dieser einen Drogensüchtigen nach dem anderen frisiert. Der nächste ist gerade fertig und betrachtet seine neue Frisur im Spiegel, er wollte eigentlich Streifen über dem Ohr rasiert bekommen. „Da fehlt doch einer auf der anderen Seite, oder?“, fragt er. „Das ist Absicht. Nur einer sieht viel cooler aus“, antwortet Yahya. Der Mann dreht den Kopf nach links und rechts und nickt dann. Yahya hat recht, es sieht wirklich modern aus.
Immer mehr Anmeldungen
Eine Mitarbeiterin des Drogenvereins kommt herein. Sie möchte wissen, wie viele Leute noch kommen dürfen. Bei seiner ersten Aktion im November des vergangenen Jahres wurde er von den Besuchern skeptisch beobachtet. Nachdem sich ein erster Mutiger vorgewagt hatte, kam es zu immer mehr Anmeldungen. Heute stehen bislang sieben auf seiner Warteliste, die alle schon gekommen sind und ungeduldig auf ihren Termin warten. Im Laufe des Nachmittags werden es wohl mehr. Yahya lächelt: „Allen, ich schneide allen die Haare. Egal, wie viele es sind.“
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