Mannheim. Die Fasten-Leidenszeit für meinen Kollegen Sebastian Koch ist vorbei. Und auch für mich endet sie endlich. Denn seit Ostern darf ich wieder mit ihm anstoßen. Seit Aschermittwoch hatte der Kollege auf Alkohol verzichtet und blieb standhaft. Respekt. Die regelmäßigen Treffen mit ihm in der Kneipe hatten seitdem merklich abgenommen. Wieso fällt es uns mit Alkohol anscheinend leichter, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen?
„Es gibt so etwas wie einen Geselligkeitszwang“, dem viele Menschen gerecht werden wollen, hält Jochen Hörisch, der das Buch „Brot und Wein: die Poesie des Abendmahls“ geschrieben hat, zunächst fest. Alkohol spielt dabei eine große Rolle. Durch Bier, Wein und Co. werde häufig eine „rituelle Gemeinschaftserfahrung gestiftet“, erklärt Hörisch. Zudem komme bei einem feuchtfröhlichen Abend noch „der kulturelle Gruppendruck“ hinzu, betont der Seniorprofessor für Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim.
In seinem Werk von 1992 nähert Hörisch sich dem Thema Alkohol auf etwas ungewöhnliche Weise. Er geht der Frage nach, inwieweit Wein und Brot beim Abendmahl als Medium funktionieren. Auffällig sei in dem Zusammenhang, „dass man im Wein das Versprechen des Sinns zu haben glaubt, dass der Sinn wirklich vorhanden ist“, erläutert Hörisch. „Wein im Abendmahlsinne heißt, Jesus Christus ist real unter uns.“
Trinke ich, so „bin ich auf der Seite der Guten“
Der 72-Jährige erklärt weiter: „Wir glauben unwahrscheinliche Ereignisse, weil wir sie im Fernsehen sehen.“ Auf das Abendmahl übertragen heißt das: „Es ist unwahrscheinlich, dass Gott einen Sohn hat, der für uns gestorben ist. Aber im Abendmahl wird das immer wieder so suggestiv erzählt und zelebriert, dass man das glaubt. Auch durch das Medium Wein“, das für das Blut steht, das Jesus Christus für die Menschen vergossen haben soll.
Noch vor hundert Jahren sei der Gang in die Kirche ein vertrautes Ereignis in der Gesellschaft gewesen. „Insofern ist der Wein ein Massenmedium“, erklärt Hörisch und betont: „Wir haben in der christlichen Tradition Wein so hoch aufgehängt, wie es gar nicht höher geht.“ Der Alkohol habe so über Jahrhunderte einen positiven Ruf in unserer Gesellschaft erlangt. Trinke ich, so „bin ich auf der Seite der Guten“, sagt Hörisch
Gleiches wie für Wein gelte in etwas anderer Form für Bier. „Wenn Sie kollektives Biertrinken haben, etwa bei einem Fußballspiel, machen Sie die Erfahrung: Ich gehöre zu den Fans in der Kurve“, sagt Hörisch. Man empfinde den Fußball dann als etwas Sinngebendes. „Mein Leben ist dem Verein geweiht, dafür bin ich bereit zu sterben. Da trinke ich mit anderen drauf“, so der Medien- und Literaturwissenschaftler.
Alkohol sei für viele Menschen ein sinnstiftendes Medium, „das Sinn als Dasein koppelt“. Selbst für Alkoholiker, die auf der Straße leben: „Auch diese Personen haben im gemeinsamen Trinken die Resterfahrung von Sinn. Ich kann all mein Elend vergessen“, sagt Hörisch. „Es ist halt eine legale Droge“, schiebt er hinterher. Jede Kultur pflege in Hörischs Augen zwar ein kritisches Verhältnis zu Drogen. Aber ein bestimmtes Rauschgift sei meistens dennoch privilegiert.
Alkohol gilt als die Volksdroge Nummer eins in Deutschland. Man verbindet oftmals positive Erlebnisse damit. Einen lustigen Abend mit Freunden zum Beispiel, der den Alltag vergessen lässt. Ein „Nein“ wird selten akzeptiert, oder unter dem gesellschaftlichen Druck gar nicht erst ausgesprochen. „Auch wenn man medizinisch weiß, dass Alkohol schädlich ist“, sagt Hörisch. Über das Risiko der Krankheiten, die durch Alkohol verursacht werden können, und die Suchtgefahr wird oft hinweggesehen. Der Konsument nimmt das oft billigend in Kauf.
Hörisch stellt dazu eine These auf: „Die mag steil sein“, sagt er erst, führt dann aber aus: „Ein Leben ohne Sucht ist nicht möglich. Ich sage bewusst Sucht - und nicht Drogen -, weil es auch stofflose Süchte gibt, etwa die Spiel-, Sport-, oder Sexsucht.“ Aber manche würden eben bei Drogen landen - und somit auch beim Alkohol. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es in Hörischs Augen sogar ein Recht auf Rausch, ob nun durch Alkohol, andere Drogen oder durch ein Runner’s High hervorgerufen. Zumal der Rausch einen Wert besitzen kann: „Dass man den harten Anforderungen des Lebens kultiviert standhält.“
„Kann ich ein kultiviertes Verhältnis entwickeln?“
Die Betonung legt Hörisch auf „kultiviert“. „Hat mich die Sucht in ihren Klauen? Oder kann ich ein kultiviertes Verhältnis zu meinen irrationalen, affektiven, emotionalen Momenten entwickeln?“ Deswegen sei auch das Alkoholholtrinken häufig mit Ritualen in der Gemeinschaft verknüpft, erklärt Hörisch. „Nehmen wir die Kirchen oder den Fußball. Es ist rituell eingebunden.“ Es sei auffällig, wie oft das der Fall ist.
Zu guter Letzt gehöre bei allem Ernst im Leben auch die Unvernunft dazu. „Menschen sind irrationale Wesen. Wir haben Emotionen und Affekte, machen Blödsinn.“ Dazu gehört wohl auch, das eine oder andere Glas zu viel zu trinken. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich sage nicht: ,Besauft euch und seid unvernünftig’“, ist es Hörisch wichtig zu betonen. Aber: „Ich denke, allzu puristisch zu sein, heißt, sich die Frage stellen zu müssen, warum man die Freuden des Lebens vermeidet.“
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