Interview

Vorsitzende des Mannheimer Migrationsbeirats: „Ich bin Deutsche. Das ist deutsch“

Zahra Alibabanezhad Salem ruft mit Gerhard Fontagnier zur Kundgebung auf dem Alten Meßplatz gegen Rechtsextremismus auf. Die Vorsitzende des Mannheimer Migrationsbeirats spricht über die Versammlung und das politische Klima

Von 
Sebastian Koch
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Vertritt als Vorsitzende des Migrationsbeirat Interessen von 156 000 Menschen mit Migrationshintergrund in Mannheim: Zahra Alibabanezhad Salem. © C. Blüthner

Mannheim. Frau Alibabanezhad Salem, am Samstag initiieren Sie gemeinsam mit Gerhard Fontagnier die Kundgebung „Nie wieder ist Jetzt! Demokratie und Vielfalt erhalten!“ auf dem Alten Meßplatz. Warum?

Zahra Alibabanezhad Salem: In den letzten Jahren ist vielfach deutlich geworden, dass sich in Deutschland etwas verschoben hat. Wenn es Menschen gibt, die noch immer sagen, es hat sich im Diskurs nichts verändert, dann sind sie davon nicht betroffen oder haben es einfach nicht gemerkt. Durch die Enthüllungen der letzten Tage ist jetzt aber vielen klargeworden, dass wir uns nicht nur in einer kurzen Phase der Verschiebung befinden, sondern dass das von Dauer sein kann. Ein solches Treffen wäre vor zehn oder 20 Jahren nicht möglich gewesen. Das hätte man sich nicht getraut.

Sie sprechen von Enthüllungen zum Potsdamer Treffen, auf dem Rechtsextreme die Deportation von Menschen mit Migrationshintergrund diskutiert haben - auch mit deutscher Staatsbürgerschaft.

Alibabanezhad Salem: Ja. Deshalb ist es jetzt soweit, dass wir uns endlich zeigen müssen. Wir müssen zeigen, dass wir mehr sind. Wir müssen zeigen, wie viel mehr wir tatsächlich sind. Mannheim hat sich mit seiner starken Zivilgesellschaft oder auch mit der Erklärung für ein Zusammenleben in Vielfalt auf die Fahne geschrieben, sich für eine Demokratie für alle einzusetzen. Dafür stehen wir am Samstag ein. Jede und jeder soll mit ein bisschen Kommunalstolz zeigen, dass Mannheim dagegenhalten kann. Auch wenn man selbst keinen Migrationshintergrund hat, hat man Freunde, Nachbarn, Kollegen oder Mitspieler, die von den Plänen betroffen sind.

Kundgebung ab 16 Uhr

  • Die Vorsitzende des Migrationsbeirats, Zahra Alibabanezhad Salem (41), wurde in Teheran geboren. Weil ihre Eltern politisch verfolgt wurden, verließ die Familie den Iran und kam 1985 nach Deutschland.
  • Am Samstag initiiert sie mit Stadtrat Gerhard Fontagnier um 16 Uhr die Kundgebung „Nie wieder ist Jetzt! Demokratie und Vielfalt erhalten!“ auf dem Alten Meßplatz. Eine frühzeitige Anreise wird empfohlen.
  • Laut Statistik haben knapp 48 Prozent der Mannheimer Bevölkerung einen Migrationshintergrund.

Kann eine Kundgebung wirklich etwas verändern? Letztlich ist das Symbolik. Entschieden wird in der Wahlkabine, nicht auf der Straße.

Alibabanezhad Salem: Natürlich ist die Kundgebung Symbolik. Wenn sich aber so viele Menschen versammeln, ist das ein Signal an die, die behaupten, eine Mehrheit würde hinter ihren Plänen stehen. Das stimmt nicht. Wir zeigen, dass die in der großen Mehrheit sind, die unsere Demokratie erhalten wollen. Wir symbolisieren ein „Bis hierhin und nicht weiter“. Es geht primär nicht darum, Menschen, die schon entschieden haben, rechte Parteien zu wählen, davon abzubringen. Das schaffen wir nicht mehr. Es geht darum, dass diese Gruppe nicht größer wird. Wir werden auch informieren, wie man sich weiter für die Demokratie engagieren und sich auf kommunaler Ebene beteiligen kann.

Die politische Beteiligung war zuletzt aber eher gering, wenn man die Oberbürgermeisterwahl denkt.

Alibabanezhad Salem: Wir müssen klar machen, welche Bedeutung die Kommunal- und die Europawahl am 9. Juli hat. Wenn die Wahlbeteiligung ähnlich ist wie bei der Oberbürgermeisterwahl, weiß ich nicht, ob wir uns darauf verlassen können, dass demokratische Parteien weiter eine stabile Mehrheit haben. Wir müssen Menschen wieder daran erinnern, was Demokratie bedeutet, in welcher Gesellschaft sie leben und dass es sich lohnt, sich dafür einzusetzen.

Ab wann hat sich das politische Klima verschoben?

Alibabanezhad Salem: Ich weiß nicht, ob man das so genau sagen kann. Das ist ein schleichender Prozess. Ich erinnere mich, als der Migrationsbeirat 2019 zum ersten Mal in der neuen Besetzung zusammengekommen ist, die meisten gesagt haben, dass sie sich wegen der schlechten Stimmung engagieren.

Was meinen Sie mit schlechter Stimmung? Wie äußert die sich?

Alibabanezhad Salem: Wenn wir von schlechter Stimmung reden, meinen wir vor allem schlechte politische Stimmung. Die Rhetorik hat sich auf den Stand der 1990er-Jahre zurückentwickelt. Denken Sie an die damalige Debatte um den sogenannten Doppelpass, die wir zum Teil heute mit gleichen Argumenten wieder führen. Denken Sie an Friedrich Merz, der als CDU-Vorsitzender öffentlich in herabwürdigender Weise von Paschas und Asyltourismus spricht. Auch die Rhetorik in den Medien hat sich verschoben. Als Vorsitzende des Migrationsbeirats fällt mir auf, dass oft gesagt wird, dass Menschen mit Migrationshintergrund oder Migrantinnen und Migranten die sind, die Probleme bereiten, und die sind, weswegen es Schwierigkeiten gibt. In den ersten sechs Monaten der Pandemie haben wir alle das Gefühl gehabt, dass sich daran etwas ändern kann.

Warum?

Alibabanezhad Salem: Wir haben uns auf Dinge besonnen, die wichtig sind und uns auf Probleme konzentriert, die wir wirklich haben: Pflegenotstand, Betreuungsprobleme, Digitalisierungsprobleme, Probleme im Bildungssystem. Damals hat auch die Politik formuliert, dass nicht Geflüchtete, Migrantinnen und Migranten oder Menschen mit Migrationshintergrund an den Problemen Schuld haben. Das hat sich wieder geändert. Mittlerweile gibt es im Gemeinderat Politikerinnen und Politiker, die bestreiten, dass es Rassismus gibt. Oder dass das Problem in Deutschland nicht der Rechtsextremismus, sondern Linksextremismus ist. Solche Aussagen sind wieder salonfähig.

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Was kann man im Privaten dagegen machen?

Alibabanezhad Salem: Ich muss an den Trainer vom SC Freiburg, Christian Streich, denken, der vor ein paar Tagen gesagt hat, dass jetzt die Zeit gekommen sei, sich auch im Privaten gegen eine bestimmte Rhetorik zu stellen. Wir haben in den letzten Jahren so viel erduldet. Denken Sie an die Querdenker-Proteste oder an Pegida. Man hat das einfach hingenommen und erklärt, die sind jetzt halt alle bisschen aufgebracht und wütend, das müsse man verstehen.

Es hieß damals oft, eine Demokratie muss das aushalten. Stellen Sie diesen Grundsatz in Frage?

Alibabanezhad Salem: Überhaupt nicht! Demokratinnen und Demokraten müssen in einer Demokratie natürlich alle Meinungen aushalten. Eine Demokratie lebt von Meinungsvielfalt. Die Frage ist, bis wann man von Meinung sprechen kann. Ist es eine Meinung, gegen Menschen zu hetzen? Sie massenhaft deportieren zu wollen? Ist Extremismus eine Meinung? Es kann keine Meinung sein, Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit deportieren zu wollen, wenn sie uns nicht mehr passen. Das geht gegen unseren Rechtsstaat. Natürlich brauchen wir Meinungsvielfalt. Meinung bedeutet aber nicht, dass man sich gegen einen Teil der Gesellschaft stellen kann und Menschen sagt, sie würden nicht zur Gesellschaft gehören. In einer Stadt wie Mannheim sind jetzt auch alle gefragt, die von den Plänen, wie sich einige die Zukunft vorstellen, nicht betroffen sind. Was uns Menschen mit Migrationshintergrund Angst macht, ist zunächst nicht der strukturelle Rassismus, der in den Plänen steckt. Strukturellen Rassismus gibt es schon lange. Uns macht die unverhohlene Offensichtlichkeit Angst, mit der er jetzt formuliert wird. Menschen sprechen ganz offen rassistisch und schüren Ressentiments, weil sie wissen, dass hier niemand etwas erwidert.

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Ist die Rhetorik also das Mittel, um etwas zu bewirken?

Alibabanezhad Salem: Wenn Sie fragen, was man im Privaten tun kann, dann ja. Jede und jeder muss auf die Rhetorik achten. Jeder und jede muss schauen, wo man sich positioniert. Ich darf von Bürgerinnen und Bürgern aber auch nicht zu viel erwarten. Wir alle haben unsere eigenen Probleme und Herausforderungen im Alltag. Ich muss aber von Politiker und Politikerinnen und von Medien mehr erwarten. Wenn von Remigration gesprochen wird, muss man klar sagen, dass in diesem Zusammenhang eine Deportation gemeint ist. Wir machen zu oft aus schlechten Dingen schöne Wörter.

Viele Institutionen und Organisationen unterstützen die Kundgebung. Wie nachhaltig ist das?

Alibabanezhad Salem: Dass Menschen an einem Samstag aufstehen und ein Zeichen setzen wollen, ist allein schon großartig. Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Damit daraus etwas Nachhaltiges wird, müssen Politikerinnen und Politiker zuhören. Dazu gehört, dass demokratische Parteien Inhalte von rechten Parteien nicht kopieren und als ihre eigenen ausgeben. Die demokratische Politik muss endlich mit anderen Inhalten und Lösungen punkten, die sich im demokratischen Spektrum bewegen. Das ist das, was wir von ihnen erwarten sollten.

Fast die Hälfte der Bevölkerung in Mannheim hat einen Migrationshintergrund. Was haben die Enthüllungen vom Potsdamer Treffen bei diesen Menschen ausgelöst?

Alibabanezhad Salem: Dazu muss man wissen, dass der Migrationsbeirat die Interessen von Menschen mit Migrationsgeschichte vertritt - wir aber nicht für sie alle sprechen. Wir hören natürlich, dass die Nachricht vom Potsdamer Treffen Menschen Sorgen macht. Vor allem, weil sie eben auch hieß, dass Menschen mit Migrationsbiographie, die die deutsche Staatsangehörigkeit haben, deportiert werden sollen. Die erste Reaktion war, dass sie das nicht machen können, dass das nicht geht, dass das nicht legal ist und dass ich doch Teil dieser Gesellschaft bin. Wenn jemandem nach dem ersten Schock dann klarer wird, dass das schon geht, wenn man ein paar Gesetze ändert, bekommt man Angst. Viele Menschen mit Migrationsgeschichte denken sich, sie machen doch schon vieles „richtig“. Sie machen eine Ausbildung, lernen Deutsch, nehmen die Staatsangehörigkeit an, engagieren sich ehrenamtlich und tun alles, um nicht „negativ“ aufzufallen - und dann hört man, dass das alles völlig egal sein soll? Das macht wütend. Natürlich vertrauen wir auf das Grundgesetz, auf den Rechtsstaat, auf die Demokratie und darauf, dass uns nichts passiert. Die Geschichte hat aber gezeigt, dass uns das größte Gut, das uns geschenkt worden ist, auch wieder weggenommen werden kann.

Viel wird darüber diskutiert, wer wann Deutsch ist und Teil der Gesellschaft ist und was das überhaupt bedeutet. Wie würden Sie das beantworten? Sie haben die deutsche Staatsangehörigkeit.

Alibabanezhad Salem: Bin ich deshalb mehr Teil der Gesellschaft? Ich habe mit 18 die Staatsangehörigkeit beantragt, weil meine Mutter das so wollte - nicht ich. Ich wollte einfach Teil der Gesellschaft sein. Bin ich jetzt automatisch mehr Teil oder ein besserer Teil, weil ich die deutsche Staatsbürgerschaft habe? Ich habe damals gedacht, dass, wenn man meinen Namen liest und man mich anschaut, man mich nie wirklich als Teil der Gesellschaft sieht.

Das ist ein paar Jahre her.

Alibabanezhad Salem: Und ich bin auch ein paar Jahre älter geworden (lacht). Schon wenn man mich in meinen Zwanzigern gefragt hat, habe ich geantwortet, dass ich Deutsche bin. So sieht Deutsch aus (sie zeigt auf ihr Gesicht). Das ist Deutsch, habe ich immer gesagt. Wir sind auch das neue Deutschland. Da habe ich aber nicht an meine Staatsangehörigkeit gedacht oder meinen Ausweis gezeigt. Glauben Sie mir, ich werde oft gefragt, ob ich Deutsche bin. Für mich ist wichtig, dass ich sage, ich bin Deutsch und Teil dieser Gesellschaft mit allen Rechten und Pflichten, weil es mir wichtig ist zu zeigen, dass „Deutsch-Sein“ nicht homogen ist. Ich setze mich für eine ehrliche und vielfältige Gesellschaft ein, weil sie mir am Herzen liegt. Dann kann man doch nicht einfach sagen, dass ich nicht dazugehöre.

Redaktion Reporter in der Lokalredaktion Mannheim & Moderator des Stotterer-Ppppodcasts

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