Mannheim. Das Machtgefälle in einer psychotherapeutischen Behandlung ist groß. Manche Therapeuten nutzen das aus, was sich für die Patienten, die dringend Hilfe benötigen, verheerend auswirkt, weiß Andrea Schleu. Sie ist Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin und Vorsitzende des Ethikvereins, der einzigen Beratungsstelle in Deutschland, an die sich Betroffene wenden können.
Frau Schleu, wann würde man von einer Grenzverletzung in einer psychotherapeutischen Behandlung sprechen?
Andrea Schleu: Partnerschaftliche Beziehungen sind in einer psychotherapeutischen Beziehung gar nicht möglich. Auch wenn dies außerhalb der Praxisräume stattfindet. Eine Grenzverletzung liegt aber auch dann vor, wenn Arzt und Patient gemeinsame Aktivitäten unternehmen, im selben Chor singen oder zusammen spazieren gehen. Auch wenn der Therapeut die Hecke seiner Patientin schneidet oder sie bittet, doch seine Stiftung zu unterstützen, verstößt das gegen die Abstinenzregel. Bedürfnisse des Arztes oder Psychotherapeuten – abgesehen von dem Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Honoraranspruch – haben in einer Behandlung nichts zu suchen.
Andrea Schleu
- Andrea Schleu ist Fachärztin für Psychothera-peutische Medizin und Vorsitzende des Ethikvereins.
- Der gemeinnützige Verein bietet vertrauliche Beratungsgespräche für alle Patienten, die verunsichert sind, sich verletzt oder falsch behandelt fühlen. Weitere Informationen gibt es im Internet unter www.ethikverein.de.
Wie hoch ist die Zahl der Opfer solcher falschen psychotherapeutischen Behandlungen?
Schleu: Auf jährlich rund zwei Millionen ambulante und stationäre psychotherapeutische Behandlungen kommen geschätzt über 1000 Fälle allein von sexuellem Missbrauch in einer Psychotherapie. Zu einer Anzeige und einem Verfahren kommt es so gut wie nie, durchschnittlich sind es vier Verfahren pro Jahr. Oft vergehen auch viele Jahre, ehe die Opfer begreifen, was ihnen angetan wurde. In der Psychotherapie sind in der Regel zwei Menschen allein in einem Zimmer. Damit stellt sich die Frage, was belegbar ist. Die Scheu der Opfer, die Vorwürfe zu äußern, ist deshalb groß. Die Scham und Schuldgefühle sowieso.
Was sind die Folgen für die Patienten, die ja eigentlich in die Psychotherapie gekommen sind, um sich von ihren Problemen zu befreien?
Schleu: Die sind oft verheerend. Die Patienten fallen in ein tiefes Loch, verlieren das Vertrauen in therapeutische Hilfsangebote, viele sind hinterher stationär behandlungsbedürftig, sie werden depressiv, manche arbeitsunfähig, einige suizidal oder werden psychosomatisch krank und die ursprüngliche Erkrankung wird chronisch.
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