Mannheim. Die Frau, die hier S. heißen soll, hat ihre Geschichte lange mit sich herumgetragen. Als sie den Bericht über die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen an einem Heidelberger Institut für Psychotherapie in dieser Zeitung liest, meldet sie sich. Sie will nun auch ihre Geschichte erzählen, die sich Mitte der 1970er Jahre am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) zugetragen haben soll. Das Problem daran, wenn man so will: Die Darstellung beruht allein auf den Erinnerungen von S.. Es gibt keine Zeugen. Der Arzt, den S. beschuldigt, ist tot. Ein damaliger Oberarzt sagt, es habe solche Übergriffe seines Wissens nicht gegeben.
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S. ist einverstanden, das Zentralinstitut zu informieren. Das forscht nach Quellen, jedoch wurden die Akten der ehemaligen Mitarbeiter nach Ablauf der Aufbewahrungspflicht von 30 Jahren vernichtet. Auch mit den noch erreichbaren Zeitzeugen wird gesprochen, aber auch auf diesem Weg seien keine Informationen im Zusammenhang mit diesem Vorfall oder Hinweise auf andere Ereignisse zu erhalten gewesen, teilt das ZI mit.
Trotzdem – oder gerade deshalb – lädt das Zentralinstitut S. ein, um sich ihre Geschichte anzuhören. Hier ist das, was sie erzählt hat.
Die Geschichte von Frau S.
Einmal in der Woche, so habe ihr der Arzt versprochen, werde er sie behandeln. Ihr sei es damals sehr schlecht gegangen, erzählt S.. Sie sei depressiv gewesen, habe Selbstmordgedanken gehabt. Ihr Stiefvater habe sie jahrelang geschlagen, später habe ihr Ehemann zugeschlagen. Nach der Trennung, die ihr Mann gewollt habe, hätten sie um das Sorgerecht der Tochter gestritten. Sie habe verloren, erzählt S. Sie habe zu trinken begonnen. „Eines Tages konnte ich mich selbst nicht mehr ertragen“, sagt S.
Besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient
Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim hatte gerade eröffnet, S. hofft, dass man ihr dort hilft. Sie erinnert sich noch an den Tag, als sie das Gebäude betritt und ihr im Eingangsbereich ein Arzt – wir nennen ihn N. – über den Weg läuft. N. ist Neurologe und Psychiater. Na, habe er gesagt, als er sie dort habe stehen sehen, wie viele Bier waren es denn heute schon?
S. wird Patientin von N. Immer montags hätten sie sich in seinem Büro getroffen. Sie müsse sich ändern, habe N. gesagt, doch ändern tue weh. Sie wolle sich ja ändern, habe sie geantwortet. Vor allem habe sie wieder arbeiten wollen, das sei ihr das Wichtigste gewesen. In einer der nächsten Sitzungen sei N. sichtbar sexuell erregt gewesen, er habe zu S. gesagt: „Sie wollen doch mehr von mir.“ Nein, habe sie geantwortet, ich will nichts von ihnen, ich will nur gesund werden.
Der Arzt, von dem S. hoffte, dass er sie wieder gesund macht, verlässt die Klinik.
Dass N. damit eine Grenzverletzung begangen hat, die Therapie sofort hätte beendet werden müssen, weiß S. damals nicht. In der Folge habe sich ihr Zustand verschlechtert, sie sei stationär im Zentralinstitut aufgenommen worden. N. habe sie weiter behandelt, für sie sei der Arzt die einzige Hoffnung gewesen, ins Leben zurückzufinden. Eines Tages sei sie in sein Büro gestürmt, habe gesagt: „Wollen Sie mit mir schlafen?“ N. habe geantwortet: „Wenn Sie mit mir schlafen wollen, müssen wir auf ein anderes Zimmer gehen.“ Sie seien gemeinsam über den Flur gelaufen, doch noch bevor sie den Raum erreicht hätten, habe sie erkannt: „Ich will das nicht.“
Ein paar Wochen später habe N. das ZI verlassen, er wird Arzt an einer Klinik in Süddeutschland. „An dem Tag habe ich geweint“, sagt S. Sie habe geweint, weil sie dachte, N. heile sie. Doch jetzt geht er einfach. Ein anderer Arzt habe ihr versprochen, sie zu behandeln, habe aber behauptet, sie müsse zunächst einen Liebesbrief an N. verfassen. S. sagt: „Ich habe den Brief geschrieben, per Einschreiben, aber er kam ungelesen zurück.“ Der Brief existiert noch, S. hat ihn bis heute aufbewahrt. Sie sagt, N. sei ja Arzt gewesen, ein Verhältnis mit ihm ein Tabu. Schließlich lässt auch der andere Arzt sie fallen. Wegen der Sache mit dem Brief und weil S. den N. ja noch liebe und weil sie keine Arbeit habe. „Ich konnte gar nicht arbeiten, ich war doch krank“, sagt S.
Nach einem stationären Aufenthalt in der Psychiatrie in Wiesloch gelangt S. in eine Klinik in Heppenheim. Dort trifft sie auf einen Psychologen, und mit ihm beginnt ihr Weg zurück in die Normalität. S. spricht von einem Wunder. „Nach acht Wochen war ich weg vom Alkohol, ich konnte wieder arbeiten.“ Zum Abschluss habe ihr der Arzt die Hand gegeben und gesagt: „So fest wie sie mir die Hand drücken, können sie es schaffen.“
S. hatte sich inzwischen umschulen lassen zur Krankenpflegehelferin. Viele Jahre habe sie danach in einem Krankenhaus im intensivmedizinischen Bereich gearbeitet. „Das war die schönste Zeit in meinem Leben.“ Sie habe viel Leid im Umgang mit den Schwerkranken erfahren, doch sie habe das ausgehalten. Die Dankeskarten der Angehörigen bewahrt sie bis heute auf. Sie liest eine vor: „Sie sind der Engel auf der Station“, schreibt eine Frau.
Dankeskarten von Angehörigen: „Sie sind der Engel auf der Station“.
Schon einmal hat S. die Geschichte ihrer Missbrauchserfahrungen erzählen wollen, das ist viele Jahre her. Das Magazin „Stern“ hatte das Thema Grenzverletzungen in der Psychotherapie aufgegriffen und nach Betroffenen gesucht. S. sagt, sie habe zunächst eingewilligt, dann aber die Reporterin unter Tränen angerufen und gebeten: „Schreiben Sie nichts, ich kann nicht.“
Vor zehn Jahren, erzählt S., habe sie eine der ehemaligen Sekretärinnen vom ZI in der Mannheimer Innenstadt getroffen. Ach, habe diese gesagt, Sie haben den Ärzten ja damals ganz schön den Kopf verdreht. „Ich hätte ihr am liebsten eine runtergehauen“, sagt S.
Die Reaktion des ZI
Das Gespräch mit S. hat Herta Flor geführt, sie ist am ZI Psychologin, Psychotherapeutin und Forscherin. Im Anschluss an das Treffen erklärt sie: „Persönlich war ich von Frau S. sehr beeindruckt. Sie hat ihre Erlebnisse sehr detailliert geschildert, und es war erkennbar, dass sie noch unter den Folgen leidet.“ Ziel des Gesprächs sei es gewesen, der Patientin eine Möglichkeit zu bieten, ihre Erfahrungen zu schildern. „Wir wollten ihr unsere Wertschätzung vermitteln und unsere Unterstützung zusichern“, sagt Flor.
An ihren Erlebnissen lasse sich erkennen, dass die therapeutische Beziehung immer eine persönliche Beziehung mit einem gewissen Machtgefälle sei, die von Seiten des Therapeuten sehr verantwortungsvoll und professionell geführt werden müsse. „Patientinnen und Patienten sollten immer auf ihre eigene Wahrnehmung vertrauen und Vorfälle, die sie als grenzverletzend empfinden, thematisieren – mit dem Therapeuten selbst oder auch mit Dritten.“
Das ZI betont in diesem Zusammenhang, dass der Schutz und die Sicherheit der Patienten sowie deren Selbstbestimmungsrecht den höchsten Stellenwert habe. Dieser Schutz beginne bereits bei der Personalauswahl. So werde besonders auf Lücken im Lebenslauf, negative Bewertungen in Arbeitszeugnissen und häufige Arbeitgeberwechsel geachtet und dies in einem Vorstellungsgespräch gegebenenfalls thematisiert.
In der täglichen Arbeit werde versucht, Konstellationen, die für Grenzüberschreitungen oder (Macht)Missbrauch besonders anfällig sind, gar nicht erst entstehen zu lassen. „Vor medizinischen, therapeutischen oder pflegerischen Maßnahmen klären wir die Patienten über den Ablauf auf, um grenzverletzendes Empfinden zu vermeiden.“ Wenn möglich, sei bei allen Pflegemaßnahmen und Untersuchungen eine weitere Person anwesend.
Neues Schulungs-konzept zur Prävention von Missbrauch und Gewalt.
Neuerdings gebe es zudem ein Schulungskonzept, wonach alle Beschäftigten in der Krankenversorgung in regelmäßigen Abständen an Pflichtunterweisungen zur Prävention von Missbrauch und Gewalt sowie zum deeskalierenden Arbeiten teilnehmen.
Besteht der Verdacht, dass eine Gewalt- oder Missbrauchssituation vorliegen könnte, seien die Mitarbeiter verpflichtet, dies zu melden. In der Folge werde die Rechtsabteilung eingeschaltet, die die Fakten zusammentrage, Gespräche mit den beteiligten Personen führe und in Abstimmung mit dem Vorstand, der ebenfalls von Beginn an eingebunden sei, die erforderlichen Konsequenzen ziehe, zum Beispiel das Stellen einer Strafanzeige und die Einleitung arbeitsrechtlicher Schritte.
Patientinnen und Patienten hätten darüber hinaus verschiedene Möglichkeiten, grenzverletzendes oder missbräuchliches Verhalten zu melden – auch anonym. Grundsätzlich gibt es laut ZI immer mehrere Kontakt- und Ansprechpersonen im Rahmen des betreuenden multiprofessionellen Teams. Darüber hinaus können sich Betroffene an die Patientenfürsprecherin wenden oder das Patientenfeedback und Beschwerdemanagement nutzen.
Das ZI war nach eigenen Angaben im Laufe der Jahre mit einigen wenigen, nicht miteinander zusammenhängenden Fällen befasst, in denen Grenzen objektiv überschritten wurden oder in denen Verhalten subjektiv als grenzüberschreitend wahrgenommen wurde.
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