Mannheim. Vor 13 Jahren hätten sie sich noch ein kleines Häuschen gekauft. „Da wollten wir alt und tattrig werden“, sagt Thomas Weil. Doch er wird nicht mehr alt und tattrig. Thomas Weil hat Lungenkrebs. Im Endstadium. Im September brach ein Brustwirbel. Ganz plötzlich. Metastasen hatten sich vom Lungenkrebs auf die Knochen ausgeweitet. „Ich bin in ein schwarzes Loch gefallen“, sagt der 58-Jährige über den Moment, als ihm die Ärzte die Diagnose mitteilten. Er weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit zum Leben bleibt. Auch das hätten ihm die Ärzte gesagt. Er solle sich die letzten Monate schön machen.
Thomas Weil ist Patient auf der Palliativstation des Universitätsklinikums Mannheim. Er sitzt, von Kissen gestützt, halb aufrecht im Bett. So bekomme er am besten Luft. Eigentlich möchte er nach Hause. „Aber hier fühle ich mich sicher.“ Er könne jederzeit klingeln, wenn etwas sei. „Brauchen Sie etwas? Eine Schmerztablette?“, fragen die Pflegekräfte. Die Tür zu seinem Zimmer lässt er meist offen stehen, so sieht er, was draußen auf dem Flur passiert.
„Schätzchen, wir schaffen das“, sagt die Frau von Thomas Weil. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist er mit seiner Lebensgefährtin zusammen. Sie wolle nicht wahrhaben, dass es zu Ende geht. Mit ihm. Mit der Beziehung. Für Thomas Weil ist das schwer zu ertragen. Dass seine Frau nicht allein zurechtkommt, sei seine größte Angst. Sein Krebs wird bestrahlt. Nicht, weil es noch Aussicht auf Heilung gebe, sondern weil die tumorbedingten Symptome gelindert werden sollen.
Palliativstation an der Uniklinik Mannheim wurde vor 25 Jahren gegründet
Vor 25 Jahren, am 2. Dezember 1998, wurde die Palliativstation an der Universitätsmedizin Mannheim gegründet. Zu verdanken ist das der Mannheimer Ärztin Adelheid Weiss, die seinerzeit viel Überzeugungsarbeit leisten musste. Die Mannheimer Palliativstation war die erste an einer universitären Klinik. Am Anfang befand sich die Station noch in der damaligen Außenklinik der Onkologie auf dem Waldhof. 2006 wurde sie in den Klinikkomplex am Neckar eingegliedert.
Es gibt insgesamt 14 Palliativbetten, nur selten bleibt eines frei. Die Palliativmedizin hat in Deutschland in den vergangenen Jahren zwar an Bedeutung gewonnen, die Plätze in Krankenhäusern und Hospizen reichen aber nicht aus. „Viele denken bei Palliativstation an eine Sterbestation“, sagt Annette Beek. Die 57-Jährige ist Stationsleiterin und schon so lange da, wie es die Abteilung gibt. Auf einer Palliativstation ist der Tod allgegenwärtig. Doch eigentlich gehe es um das Leben, sagt Beek.
Palliative Versorgung in Deutschland
- Die Palliativmedizin hat das Ziel, die Folgen einer Erkrankung zu lindern (Palliativ), wenn keine Aussicht auf Heilung mehr besteht. Die Palliativversorgung kann zu Hause, im Krankenhaus, im Pflegeheim oder im Hospiz erfolgen – darauf haben Versicherte einen gesetzlichen Anspruch.
- Palliativversorgung, so heißt es in den Empfehlungen der europäischen Gesellschaft für palliative Care, „bejaht das Leben und sieht das Sterben als normalen Prozess; weder beschleunigt noch verhindert sie den Tod. Sie strebt danach, die bestmögliche Lebensqualität bis zum Tod zu erhalten“.
- Palliativversorgung gilt in Deutschland nach wie vor als ein junges Fach. Es gibt rund 340 Palliativstationen und knapp 1500 ambulante Dienste. Dazu kommen mehr als 270 Hospize.
- Seit 2014 müssen Medizinstudenten verbindliche Leistungsnachweise im Fach Schmerz- und Palliativmedizin erbringen. Zudem haben alle Ärztinnen und Ärzte die Möglichkeit, eine Zusatz-Weiterbildung im Fach Palliativmedizin zu machen.
- Unterstützt werden die Arbeiten auf den Palliativstationen häufig von Fördervereinen. Auch am Uniklinikum Mannheim gibt es einen solchen Förderverein, der durch Sachspenden und ehrenamtliche Arbeit der Palliativstation unter die Arme greift. Er sorgt für eine wohnliche Ausstattung auf der Station, ermöglicht besondere Therapieformen und erfüllt Herzenswünsche schwerkranker Patienten.
- Wer sich für den Förderverein interessiert, findet weitere Informationen unter palliativ-mannheim.de.
- Spenden an den Förderverein: Sparkasse Rhein Neckar Nord, DE13 6705 0505 0039 2535 34 | BIC MANSDE66XXX.
An der Wand vor der Eingangstür zur Station hängt ein Foto, darunter steht der Spruch „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben“. Das Zitat stammt von Cicely Saunders, der Begründerin der modernen Hospizbewegung. Annette Beek hat es zu ihrem Leitspruch gemacht.
Mehr als nur Pflege: Das engagierte Team und die vielfältige Betreuung auf Palliativstationen
Loszulassen sei der größte Schritt, den die Schwerkranken gehen müssten. Für Annette Beek heißt das aber nicht, dass sie sich ihrem Schicksal ergeben sollen. „Wir wollen die Patienten stärken, dass sie mit erhobenem Kopf durch die letzten Wochen und Tage ihres Lebens gehen können.“ Annette Beek hat viele traurige Momente erlebt, aber auch viele schöne. Dreimal in den 25 Jahren haben Paare auf der Station geheiratet, andere Menschen haben sich mit Familienmitgliedern versöhnt.
„Wer hier arbeitet, gibt viel von sich, er bekommt aber auch viel an Dankbarkeit zurück“, sagt Annette Beek. Ein multiprofessionelles Team kümmert sich um die Patienten, es gibt Musik-, Kunst- und Ergotherapeuten, Psychologen, Seelsorger, und manchmal kommt sogar ein Therapiehund auf die Station. Der Personalschlüssel ist höher als auf normalen Stationen. „So bleibt mehr Zeit für Betreuung und Gespräche“, betont Pflegedienstleiterin Ricarda Fredl-Maurer.
Tobias Boch ist ärztlicher Leiter auf der Station. Er ist 39 Jahre alt und war bereits auf verschiedenen Gebieten der Krebsmedizin tätig, auch in der Forschung hat er gearbeitet. Er ist Arzt geworden, um kranken Menschen zu helfen. Doch er hat auch gelernt, dass die Medizin ihre Grenzen hat. Wenn angehende Ärztinnen und Ärzte auf die Palliativstation kommen, fragt er sie: „Wenn Ihr gleich zu unserem Patienten ins Zimmer geht, was ist Euer Ziel?“
Wenn Heilung nicht mehr möglich sei, gehe es umso mehr darum, sich für die Lebensqualität einzusetzen. Die ärztliche Kunst bestehe dann vor allem darin, die körperlichen und seelischen Beschwerden zu verringern. Schmerzen können medikamentös gemildert, Atemnot genommen, der Appetit verbessert und Depressionen behandelt werden.
Auch das Eindämmen einer ansonsten unheilbaren fortgeschrittenen Tumorerkrankung durch Chemo- oder Strahlentherapie kann Ziel der Palliativmedizin sein.
Zuwendung für Angehörige ist entscheidend für den Trauerprozess
Auf einer Palliativstation gibt es jedoch nicht nur Kranke, um die sich Pflegekräfte und Ärzte kümmern. Auch die Gesunden, die Angehörigen, werden in den Blick genommen. Wie sie die letzten Wochen und Tage an der Seite der Sterbenden erleben, ist entscheidend für den späteren Trauerprozess.
Wie wichtig es ist, mit einbezogen zu werden, Zuspruch und vor allem Informationen zu erhalten, hat Simone Rein erfahren. Die Schwester ihres Mannes ist im September 2023 an Darmkrebs gestorben. Elena wurde nur 30 Jahre alt. Bis zuletzt hatte sie gehofft, noch an ihrem Sterbetag fragte sie morgens, wann die Chemotherapie fortgesetzt werde. „Sie war so lebensbejahend“, sagt Simone Rein.
Die letzten Tage im Leben ihrer Schwägerin verbringt die Familie auf der Station. Die Eltern von Elena an ihrem Bett, Simone Rein und ihr Mann, der Bruder von Elena, im Aufenthaltsraum, dem „Wohnzimmer“, wie es die Palliativstation nennt. „Wir hatten nie das Gefühl zu stören“, sagt Simone Rein. Für sie und ihren Mann sei es wichtig gewesen, in diesen letzten Tagen und Stunden in der Nähe zu sein. Sie vertrauen den Ärzten und Pflegekräften, das Personal habe eine große Ruhe ausgestrahlt und die Zuversicht, dass Elena nicht leiden muss.
Uniklinik Mannheim bietet auch eine ambulante Palliativversorgung an
Unbemerkt hatte sich aus der chronischen Darmentzündung, an der Elena schon länger litt, ein Tumor entwickelt. Als Ärzte ihn kurz vor Weihnachten 2022 entdecken, hat er schon in andere Organe gestreut. Elena unterzieht sich einer Chemotherapie, anschließend verbringt sie mehrere Wochen auf der Palliativstation des Klinikums. Dort feiert sie auch ihren 30. Geburtstag. Es ist das erste Mal, dass Simone Rein davon hört, dass es eine solche Abteilung gibt.
Doch Elena will nach Hause. Sie ist alleinerziehend, hat eine Tochter. Das Kind weiß nicht, wie schlecht es um die Mutter steht. Für solche Fälle bietet das Klinikum eine ambulante Palliativversorgung an. Die Patienten können rund um die Uhr Ärzte und Pflegekräfte telefonisch erreichen. Die komplexe Versorgung wird so organisiert, dass sie von den Angehörigen zu Hause geleistet werden kann. Zum Beispiel kann ein Port gelegt werden, ein Zugang zur Vene, über den Medikamente und Schmerzmittel verabreicht werden können. „Wenn es nicht funktioniert, können die Menschen zu uns zurückkommen, das gibt ihnen Sicherheit“, sagt Annette Beek.
Es ist diese Wärme und Anteilnahme, die diesen Ort besonders machen
Mehrere Monate verbringt Elena zu Hause mit ihrer Tochter; ihre Eltern, ihr Bruder und Simone Rein wechseln sich ab mit der Betreuung. Anfang September verschlechtert sich ihr Zustand, sie muss ins Krankenhaus. Auf der Palliativstation ist ein Bett frei, und sie kann gleich dort eingeliefert werden. Fünf Tage später, an einem Freitag, stirbt sie. Eine der Pflegekräfte, die sich viel um Elena gekümmert hatte, hat bereits Feierabend. Ihre Kollegen geben ihr Bescheid, und sie kehrt ins Klinikum zurück, tröstet die Angehörigen. „Es ist diese Wärme und Anteilnahme, die diesen Ort besonders machen“, sagt Simone Rein.
Tobias Boch sagt, er habe sich in keinem anderen Bereich so sehr als Arzt gefühlt wie hier auf der Palliativstation. „Ich sehe den Menschen nicht nur als Patienten, ich behandele nicht nur eine Krankheit, sondern der Mensch, sein ganzes Leben steht im Mittelpunkt unserer Arbeit.“
Thomas Weil hat seine letzte Reise noch vor sich. Er würde gerne noch einmal verreisen. Doch er ist auch realistisch. Seiner Lebensgefährtin hat er gesagt: „Ich werde vor dir gehen, das ist nun mal so.“
Um die Persönlichkeitsrechte der Schwerkranken und Angehörigen in dieser Geschichte zu schützen, wurden Namen und biografische Angaben geändert.
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