Rekorde, die aufrütteln: Noch nie sind in der Vesperkirche täglich bis zu 800 Essen ausgegeben worden. Noch nie hat Bedürftigkeit so mannigfach Gesicht gezeigt – weil bei der 26. Auflage der vierwöchigen Aktion in „Konkordien“ viele neue Gäste gekommen sind. „Armut rückt näher an die Mitte der Gesellschaft“, erklärt Dekan Ralph Hartmann bei der Pressekonferenz vor dem Abschlussgottesdienst am Sonntag, 5. Februar, um 14.15 Uhr.
Bereits zur Halbzeit 8700 Gäste. 292 Ehrenamtliche, davon täglich um 55 im Einsatz. Solcherlei Zahlen beeindrucken – hingegen berühren Geschichten von Menschen, die schon seit Jahren oder auch erstmals das Angebot für Leib und Seele annehmen. Pfarrerin Ilka Sobottke, die mit ihrer Kollegin Anne Ressel die Vesperkirche leitet, weiß, welch verschlungene Wege samt abrupten Abbiegungen das Schicksal zu gehen vermag. Sie erzählt von einem jungen Elternpaar, beide Akademiker. Während Corona hat der Mann seine Stelle verloren, ausgerechnet in jener Zeit, als sich die Frau um die zwei kleinen Kinder kümmerte. Schnell war das Ersparte weg. Sich ans Job-Center zu wenden, kam für die beiden nicht in Frage. Den Weg zur überbrückenden Grundsicherung ebnete ein Sozialberater der Vesperkirche – mit Erfolg und der Perspektive auf einen neuen Job.
Bei der Kampagne in „Konkordien“ geht es schließlich nicht nur um Essen und Trinken, sondern auch um praktische Hilfe im Alltag – und zwar so, dass diese verstanden wird. Denn viele Menschen, so gibt Michael Graf, Direktor des Diakonischen Werks, zu bedenken, können Beratungsangebote nicht umsetzen, weil beispielsweise das Ausfüllen eines Wohngeldantrags überfordert.
Ohnehin treibt das Thema bezahlbarer Wohnraum um – nicht nur jene, die auf der Straße gelandet sind. Sobottke erzählt von einem älteren Mann, der sich nach dem Tod des Bruders das einst geteilte Zuhause finanziell nicht mehr leisten kann, aber dort, wo er seit Jahrzehnten lebt, keine kleinere Wohnung mit niedrigerer Miete findet. Und so setzt eine Schuldenspirale ein.
Auch wenn jede Lebensgeschichte anders verläuft, so verbinden Parallelen. „Irgendwie habe ich mich durchgewurstelt, aber das klappt nicht mehr.“ So oder ähnlich berichten Männer und Frauen, die bislang mit Minijobs, kleinen Renten oder Sozialleistungen über die Runden kamen, aber neuerdings schon Mitte des Monats kein Geld mehr haben: Weil nicht nur Energiekosten, sondern auch Lebensmittelpreise in die Höhe geschossen sind. Da bietet die Vesperkirche mit Mittagessen und Imbiss-Tüte vier Wochen lang die Möglichkeit, vom knappen Budget etwas auf die Seite zu legen – beispielsweise für kleines Geschenk, wenn das Enkelkind Geburtstag hat.
„Meine in Norddeutschland lebende Tochter soll nicht wissen, wie wenig Geld ich habe“, erzählt eine Seniorin, die von einer Journalistin befragt wird. Nicht nur die Endsiebzigerin betont, dass sie neben dem „Spareffekt“ die Gespräche am gedeckten Tisch sucht – weil ihr Zuhause die Decke auf den Kopf fällt.
Dass ein Großteil der Gäste mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen hat, ist kein neues Phänomen. Aber sehr wohl, dass die Zahl jener Menschen drastisch zugenommen hat, die „überhaupt nicht mehr erreicht werden können“, so die Seelsorgerin. Und manche seien nicht mal mehr in der Lage, ihre wenigen Habseligkeiten, beispielsweise den überlebenswichtigen Schlafsack, zu hüten.
Diesmal haben auch Frauen und Kinder aus der Ukraine das Angebot der Vesperkirche genutzt. Manchmal bekamen sie Argwohn zu spüren. „An den Rändern der Armut gibt es so etwas wie ein Konkurrenzverhältnis“, beobachtet Ilka Sobottke. Sie weiß um die wabernde Furcht, dass Hilfen für Flüchtlinge zu Lasten heimischer Menschen in Not gehen könnten.
„Mutwillig Wunder wagen“: Das diesjährige Motto sollte Ermutigung sein – auch für solche, die nicht mehr auf Wunder hoffen. Am Hochmut jener, die keinen Handlungsbedarf sehen, dürfte die 26. Vesperkirche nicht gekratzt haben. Dass Arme immer ärmer werden, „das macht mich rasend“, erklärt Pfarrerin Sobottke. Allerdings hat die Kampagne Armut sichtbar gemacht und obendrein so manch kleine Wunder vollbracht.
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