Wunder in der Katastrophe

Von 
Sobottke,
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In diesem Jahr kommen mehr Menschen als je in die Vesperkirche. 800 Essen am Dienstag. Die meisten essen in der Kirche miteinander und da gelingen jeden Tag Wunder – und jeden Tag brechen neue Katastrophen über uns herein. Am Dienstag sind nur 700 Essen bestellt – aber der Metzger Hauk bringt Gulasch vorbei. Ein Wunder in der Katastrophe. Roswitha schreibt, sie hat ihre Energiepauschale überwiesen, sie braucht das Geld nicht. Wir brauchen es! In diesem Jahr kostet auch die Vesperkirche mehr denn je. Das Essen ist teurer, die Heizung, und 250 Essen mehr jeden Tag. Viel mehr Menschen in Not in unserer Stadt!

Viele helfen dieses Jahr zum ersten Mal. Einer ist Arzt. Eine winzige Frau hat ein Problem, ihre Not, ihr Schmerz so groß. Der Arzt ist beunruhigt, sie muss sofort ins Krankenhaus – aber wird man ihr da helfen? Sie ist nicht krankenversichert. Sie bekommt einen Brief mit auf den Weg. Am nächsten Tag kommt sie voll Dank und mit Medikamenten. Auch die Tochter strahlt. Aber beide wurden in der Straßenbahn erwischt, ohne Fahrkarte. Sie sollen Strafe zahlen, sonst kommt man in den Knast, das wissen sie.

Wundersame Hilfe, neue Katastrophe. So geht das hier jeden Tag. Einer ist eben aus dem Knast entlassen, eine soll morgen hinein, einer will in die Psychiatrie, eine will da auf keinen Fall hin. Die Ehrenamtlichen sind oft stolz, oft zutiefst berührt, wie der Arzt, der einen kritischen Blick in den Raum wirft und fragt, was für eine Gesellschaft wir eigentlich sind, wenn wir so viel Armut zulassen.

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Wir alle wissen: Corona und die Folgen, der Krieg, die Inflation all das hat Menschen ärmer gemacht. Viel ärmer. Und es hat Menschen arm gemacht, die es sich nicht hätten denken lassen. Wie Oleksandra aus Mariupol. Sie ist IT-Entwicklerin, spricht hervorragend englisch, hat immer gearbeitet. Nun sitzt sie hier und ist auf Hilfe angewiesen.

In der Vesperkirche begegnen wir Katastrophen, privaten persönlichen Katastrophen. Die Gründe dafür: der Krieg, Krankheit, Schicksalsschläge und die Ungerechtigkeit, die die einen immer reicher macht während so viele verarmen.

Soll das so weitergehen? Die Vesperkirche ändert das nicht. Aber die Fragen werden sichtbarer: Wollen wir das hinnehmen, dass es immer mehr Menschen in Not gibt?

In der Vesperkirche versuchen wir zusammenzubringen, was die einen zu verschenken haben und was die anderen brauchen. Das ist schon mehr als ein Wunder. Jeden Tag geht jemand sehr glücklich hinaus. Auf die Straße, ins Parkhaus, zur Notunterkunft, in die unbeheizte Wohnung, in sein Leben.

Ich bin sehr dankbar für all die Wunder, die wir hier erleben und für die vielen Menschen, die dabei mithelfen, mit ihrer Zeit, ihrer freundlichen Aufmerksamkeit und mit ihren Spenden, Geld, Kuchen, Schlafsäcke – aber ich will die Katastrophe der Ungerechtigkeit nicht mehr hinnehmen. „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach!“, so sagte das schon der Prophet Amos.

Jenseits der Wunder braucht es mehr Gerechtigkeit. Schneller. Weil es nicht mehr auszuhalten ist, wie die Katastrophen der Welt persönlich werden und immer mehr Menschen treffen – vielleicht ist die Gerechtigkeit, die wir brauchen, inzwischen nur noch durch ein Wunder möglich.

Ilka Pfarrerin City-Gemeinde Hafen-Konkordien Sobottke,

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