Mannheim. In den kinderreichsten Stadtteilen Mannheims fehlen Kinderärzte. „Pervers“ nennt das Linken-Stadtrat Dennis Ulas im jüngsten Ausschuss für Bildung und Gesundheit: „Dort, wo der Bedarf am größten ist, ist kein Angebot vorhanden.“ Das bestätigt der Leiter des Gesundheitsamtes Peter Schäfer: Insbesondere in den Stadtteilen der Sozialräume 4 und 5, beispielsweise Hochstätt und Jungbusch, sieht er die Versorgung als „nicht ausreichend gegeben beziehungsweise gefährdet“.
Die SPD-Fraktion hatte die Anfrage zur kinderärztlichen Versorgung in den Stadtteilen an die Stadtverwaltung gestellt. Ausgangspunkt ist die Situation auf der Hochstätt, wo es keine einzige Kinderarztpraxis gibt. Das Ergebnis zeigt sich in Impflücken, fehlenden Vorsorgeuntersuchungen und Entwicklungsrückständen. „Es ist bedenklich, wenn U-Untersuchungen fehlen und ein Bedarf an Frühförderung, Logopädie oder Ergotherapie nicht frühzeitig festgestellt werden kann. Bei der Schuleingangsuntersuchung ist es zu spät, um das aufzufangen“, sagt SPD-Stadträtin Melanie Seidenglanz und fügt hinzu: „Das ist sowas von sozial ungerecht, dass jetzt nicht nur der Geldbeutel der Eltern über Bildungschancen entscheidet, nun sprechen wir auch über Gesundheitschancen.“ Es gehe dabei nicht um Kleinigkeiten, wenn ganze Krankheitsbilder nicht entdeckt würden.
Planungsbezirk Mannheim ist laut KV mit 131,5 Prozent „formal überversorgt“
Laut aktuellem Versorgungsbericht der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Baden-Württemberg liegt der Versorgungsgrad mit Kinderärztinnen und -ärzten im Planungsbezirk Mannheim bei 131,5 Prozent. Wenn der Versorgungsgrad den Wert von 110 Prozent übersteigt, wird der Bereich für Neuzulassungen gesperrt. Es darf dann keine neue Praxis eröffnen. „Die Berechnung dieser Prozentzahl wird von der KV vorgenommen. Sie ist für die Stadt nicht nachvollziehbar und entspricht nicht dem tatsächlichen Bedarf“, stellt Peter Schäfer fest. Die KV wiederum verweist auf den Gesetzgeber: „Der Bedarfsplanung liegt eine bundesweit gültige Richtlinie zugrunde, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss vorgegeben ist, in dem die Akteure im Gesundheitswesen vertreten sind. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die Bedarfsplanung kein Instrument der Kassenärztlichen Vereinigungen ist und auch von den KVen nicht verändert werden kann“, teilt eine Sprecherin auf Anfrage mit.
Dass es trotz der formalen Überversorgung zu Schwierigkeiten bei der Suche nach einem Kinderarzt kommen kann, räumt die KV ein. So hätte die Zahl der Kinder zugenommen, und auch die Anzahl der Vorsorgeuntersuchungen sei gestiegen, was in den Praxen zu Terminengpässen führen könne. „Die Kinderärzte berichten, dass sie pro Patient im Schnitt mehr Zeit benötigen. Die Behandlung und Betreuung ist insgesamt aufwendiger als früher, auch weil das Gesundheitswissen nicht mehr so ausgeprägt ist und die Eltern viel öfter in die Praxis kommen und ärztlichen Rat auch zu nicht-medizinischen Fragen haben möchten, etwa zu Fragen der Erziehung“, teilt die Sprecherin weiter mit. Auf der anderen Seite sei auch die Arztzeit gesunken. So habe sich der Anteil der Ärztinnen und Ärzte in Teilzeit von rund 16 Prozent auf 33 Prozent in den letzten zehn Jahren verdoppelt.
Die KV bekräftigt, dass sie über kein Steuerungsinstrument verfügt, mit dem Kinderärzte in bestimmte Stadtteile geschickt werden können. Dass allerdings gerade diese ungleiche Verteilung erhebliche Auswirkungen auf Familien und Kinder haben kann, insbesondere in Bezug auf Bildungsgerechtigkeit und soziale Teilhabe, berichtet Peter Schäfer. In unterversorgten Stadtteilen müssten Eltern oft lange Wartezeiten für Termine in Kauf nehmen oder weite Wege zurücklegen, um eine kinderärztliche Versorgung zu erhalten. Dies könne dazu führen, dass Kinder seltener präventive Untersuchungen oder notwendige medizinische Behandlungen erhielten, was wiederum ihre Entwicklung und Bildungschancen beeinträchtige.
Schäfer verweist auf große Unterschiede in der Inanspruchnahme der U-Untersuchungen in den Sozialraumtypen und Stadtteilen Mannheims: Werde die U8 in den Stadtteilen mit eher geringen sozialen Problemlagen des Sozialraumtyps 1 und 2 noch zu 90 Prozent genutzt, betrage die Teilnahmequote im Sozialraumtyp 4 rund 80 Prozent und im Sozialraumtyp 5 lediglich 76 Prozent. In der Neckarstadt-West, der Innenstadt, auf dem Luzenberg und Waldhof-West nehmen nur rund drei von vier Kindern an der U8 im Alter von etwa 4 Jahren teil. Die niedrigsten Teilnahmeraten verzeichnen der Jungbusch (62 Prozent) und die Hochstätt (63 Prozent).
Dass die Stadt praktisch keine Möglichkeit hat, hier regulierend einzugreifen, darauf verweist Bürgermeister Dirk Grunert. Man leiste, was man könne, um das System zu stabilisieren. Ein Beispiel sei das Gesundheitscafé Schönau, das unter der Federführung des Fachbereichs Jugendamt und Gesundheitsamt vor einem Jahr eröffnet wurde und dem ebenfalls eine mangelnde kinderärztliche Versorgung zugrunde lag.
Es gibt sie allerdings, die Mediziner in Mannheim, die bereit sind, sich in weiteren Stadtteilen zu engagieren. Eine von ihnen ist Stefanie Schwarz-Gutknecht, die eine Kinderarztpraxis am Wasserturm betreibt und nun auch die Hochstätt mitversorgen möchte. Sie hat einen Antrag auf Sonderbedarfszulassung bei der KV gestellt und alle Voraussetzungen geschaffen: Die Räumlichkeiten sind organisiert, der Mietvertrag wartet nur noch auf die Unterschriften.
Eine angestellte Ärztin aus ihrer Praxis würde ihre Stunden erhöhen und sich in Rotation mit Schwarz-Gutknecht an drei Vormittagen und einem Nachmittag in der Woche um die Kinder kümmern. „Von mir aus ist alles startbereit“, so die engagierte Kinderärztin. Wenn im Juni das Sonderkomitee der KV das nächste Mal tagt, hofft sie auf einen positiven Bescheid. „Dann könnte ich im September auf der Hochstätt starten“, sagt Schwarz-Gutknecht.
Terminanfragen kommen nicht nur aus Mannheim
Auch ihre Praxis am Wasserturm ist sehr gut ausgelastet, Terminanfragen bekommt sie „von allen Seiten“, nicht nur aus Mannheim. Gerade in den Wintermonaten mit häufig auftretenden Atemwegsinfekten arbeite sie mit ihren Angestellten oft am Anschlag. Das KV-Argument der gesunkenen Arztzeit kann sie daher nicht nachvollziehen.
Stefanie Schwarz-Gutknecht ist es ein Anliegen, sich auch um die Kinder auf der Hochstätt zu kümmern. Beispiel fehlende Vorsorgeuntersuchung U8: „Das ist eine Untersuchung, bei der man vor allem auch auf die Sprachentwicklung schaut und schon die Schulreife in zwei, drei Jahren im Blick hat. Gibt es hier Verzögerungen oder Störungen kann man frühzeitig gegensteuern. Fehlen diese Maßnahmen, rutschen die Kinder oft in den Bereich der Förderschule. Und das hätte nicht sein müssen, wenn man früher etwas unternommen hätte“, sagt die Medizinerin.
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