Mannheim. Es ist nur eine Routinekontrolle, die dem Gauner später zum Verhängnis wird. Denn was der Verbrecher dabei nicht ahnt: Der Polizist, der ihm gerade gegenübersteht, wird sein Gesicht nie wieder vergessen. Wie gut sich der 35-Jährige Gesichter einprägen kann, beweist der Fahnder nämlich dann drei Jahre später am Bismarckplatz in Heidelberg: Dort erkennt der Ermittler den Kriminellen wieder – und verhaftet ihn.
„Die meisten Täter fühlen sich total ertappt, sind komplett überrascht, dass ich sie wiedererkannt habe“, sagt Jonas Minz mit einem Schmunzeln. Seine Superkraft setzt der Polizist als verdeckter Ermittler bei der Kriminalpolizei ein – sein wahrer Name muss deshalb geheim bleiben. Moment mal: Superkraft? So kann man diese Fähigkeit durchaus bezeichnen, sind die sogenannten Super Recogniser, wie sie die Wissenschaft nennt, doch ein relativ neues Forschungsfeld.
Nur zwei Prozent besitzen die Superkraft
Denn die Gabe, Menschen wiederzuerkennen, die man einmal flüchtig gesehen hat, besitzen nur zwei Prozent der Bevölkerung. Das Potenzial hinter dieser Fähigkeit hat auch die Polizei erkannt. Bekannt für ihre Erfolge ist etwa eine Spezialeinheit von Super Recognisern des Scotland Yard in London, die britischen Spezial-Polizisten wurden schon für Einsätze in Deutschland angefordert.
Die Wiedererkenner
- Egal, ob gealtert, abgemagert oder übergewichtig, mit Sonnenbrille oder neuer Friseur – Super Recogniser können ein eingeprägtes Gesicht unter Tausenden wiedererkennen – egal, wie stark sich der Mensch verändert hat. Seit 2009 ist das Phänomen der Wissenschaft bekannt – und fasziniert Forschende seitdem. Allen voran die University of Greenwich in London. Dort entdeckte Professor Josh P. Davis bei der Arbeit mit der Kriminalpolizei, dass eine kleine Gruppe Polizisten auffällig gut darin war, Menschen auf Bildern von Überwachungskameras zu erkennen.
- In der echten Welt nutzen die sogenannten Wiedererkenner außerdem nicht nur das Aussehen eines Menschen, sondern auch Gangart, Stimme, Gestik und Mimik, um Personen zu identifizieren. Die angeborene Begabung ist nicht bei jedem und jeder gleich ausgeprägt, es gibt unterschiedliche Arten:
- Das „Spotting“ beschreibt die Fähigkeit, ein Gesicht im Getümmel sofort ausfindig zu machen.
- Beim Lichtbildabgleich werden zwei Bilder nebeneinandergelegt und so geprüft, ob es sich um ein und dieselbe Person handelt.
- Ein extrem gutes Langzeitgedächtnis hilft dabei, selbst Menschen wiederzuerkennen, die man vor vielen Jahren flüchtig gesehen hat.
- Bin ich ein Super Recogniser? Die University of Greenwich ist stets auf der Suche nach Menschen mit dieser Gabe und hat deshalb einen öffentlichen Test erstellt. Ob Sie diese Gabe haben, können sie unter diesem Link testen: www.greenwichuniversity.eu lia
Erstmals etwa nach der Kölner Silvesternacht 2015, um Verdächtige zu finden. Inzwischen aber gibt es in vielen Bundesländern Pilotprojekte, in Frankfurt oder Stuttgart sogar eigene Einheiten. Auch bei der Bundespolizei werden bereits Super Recogniser an Bahnhöfen und Flughäfen eingesetzt – laut Innenministerin Nancy Faser erfolgreich.
Besser als jede moderne Software
Besonders beim Identifizieren von Straftätern, bei Fahndungen oder Überwachungsseinsätzen sind die Superkräfte dieser Beamten gefragt. Dass Menschen wie Minz laut Wissenschaft dabei sogar besser sind als gängige Gesichterserkennungssoftwares, macht sie umso wertvoller für die Verbrecherjagd.
Um herauszufinden, ob es auch in den eigenen Reihen solche Super Recogniser gibt, hat das Polizeipräsidium Mannheim schon vor zwei Jahren alle seine Mitarbeitenden getestet. Bei 56 Personen hatte der Test angeschlagen. Seit wenige Monaten werden einige davon nun gezielt eingesetzt, etwa jüngst bei der Time Warp in der Maimarkthalle. Als die Polizisten eine Gruppe anhalten und kontrollieren wollen, flüchten einige, tauchen in der Menge unter.
Ich kann das nicht abstellen, scanne ständig alles und jeden. Oft scrolle ich einfach durch die Fahndungsfotos von laufenden Ermittlungen, schaue mir Videoaufnahmen mehrfach an, das reicht schon aus
Die Super Recogniser aber entdecken sie später wieder unter den Tanzenden – und kontrollieren sie erneut. Gesteuert werden solche Einsätze in der neu eingerichteten Koordinierungsstelle „Wiedererkenner“. Je nach Bedarf und auf Abruf fordert Leiter Christian Wallitzer seine Spezial-Polizisten und Polizistinnen an, darunter ist auch Minz.
Vor Gericht kein Beweismittel
Tatsächlich besitzt jede und jede eigene Stärken, wie etwa Verkehrspolizistin Nina Meier (Name geändert). „Ich habe erst nach dem Test erfahren, dass ich das kann. Ich achte auf unterschiedliche Typen von Gesichtern und habe richtig Lust, meine Fähigkeit öfters einzusetzen“, beschreibt sie ihr Können.
Bislang hat Meier Lichtbilder von Verdächtigen oder gesuchten Straftätern überprüft, ihre Stärke liegt im Vergleich von Gesichtern, die sie sich kurzfristig intensiv einprägen kann. Das hilft besonders dann, wenn es nur verschwommene, unscharfe oder dunkle Aufnahmen einer Überwachungskamera gibt – denn da stoßen normale Gesichtserkennungssoftwaren an ihre Grenzen. Den Spezialkräften werden diese Aufnahmen sowie das Lichtbild des Verdächtigen gezeigt.
Die Hinweise der Super Recogniser gelten nicht als Beweis vor Gericht
„Wir legen solche Bilder zum Abgleich aber immer zwei Super Recognisern vor, fragen auch nicht: Könnte der das sein? Solche Fragen beeinflussen das Urteilsvermögen und verunsichern nur“, sagt Leiter Christian Wallitzer. Der Kriminalhauptkommissar ist selbst ein Super Recogniser und betont: Das Wiedererkennen gilt vor Gericht nicht als Beweismittel, sondern dient lediglich als Hinweis für laufende Ermittlungen. „Aber allein, dass wir damit Verfahren anstoßen können, ist ein toller Erfolg“, freut sich Wallitzer.
Dass solche Hinweise oft entscheidend sind, weiß auch Fahnder Minz aus eigener Erfahrung. Sein Talent hat sich längst im Kollegenkreis herumgesprochen, immer wieder bitten ihnKollegen darum, mal einen Blick auf einen schwierigen Fall zu werfen. „Natürlich ist die Erwartungshaltung hoch – aber manchmal kann ich es einfach nicht genau bestimmen“, sagt Minz. Selbst vor Gericht ist er für die Richterinnen und Richter ein äußerst beliebter Zeuge.
Schließlich ist seine Trefferquote hoch: Laut eigener Schätzung hat Minz fast 60 Personen in den vergangenen Jahren wiedererkannt. Sein Talent fällt auch einem Landeskriminalbeamten auf, der ihn zum Test ermuntert – noch lange bevor das Präsidium selbst seine Mitarbeitenden testet.
Anhand von Videoaufnahmen so mancher Überwachungskamera oder per Identitätscheck und Lichtbildausweis lässt sich nach dem Wiedererkennen gegenprüfen, ob es sich wirklich um den gesuchten Täter handelt. Allerdings fällt dabei viel Recherche an, und das dauert. Zeit, die es selten im regulären Streifendienst gibt. Das betonen auch Minz und Meier, die deswegen bislang nur auf Abruf als Super Recogniser eingesetzt werden.
Kollegen mit „Täterinstinkt“
„Führer war es nur auffällig, dass immer die gleichen Kollegen so erfolgreich waren. Damals hat man von Täterinstinkt gesprochen. Jetzt hat diese Fähigkeit endlich einen Namen“, sagt Leiter Wallitzer. Die wenigen Einsätze seiner Spezialkräfte waren bislang immer erfolgreich, mittlerweile werden schon Polizeischüler und -schülerinnen an der Hochschule darauf getestet.
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Wie gelingt es also dem besonders begabten Minz, sich so lange so viele Gesichter zu merken – und wo stößt selbst er an seine Grenzen? „Ich kann das nicht abstellen, scanne ständig alles und jeden. Oft scrolle ich einfach durch die Fahndungsfotos von laufenden Ermittlungen, schaue mir Videoaufnahmen mehrfach an, das reicht schon aus“, sagt der 35-Jährige.
Auch privat im Supermarkt oder im Italienurlaub hat er schon Kriminelle wiedererkannt, seine Superkraft macht nie Pause. Schon früh merkt der Polizist, dass er nicht nur ein extrem gutes Langzeit-, sondern auch ein fotografisches Gedächtnis hat. Heute weiß er oft noch genau, wo und wann er eine Person gesehen hat.
Sein Job als Fahnder ist wohl gleichzeitig das beste Training, um diese Superkraft gezielt einzusetzen. Dabei achtet Minz auf das Gesamtbild eines Menschen: schrägschauende Augen, eine Stirnfurche oder eine leicht vorgebeugte Schulter, ein abgeknickter Fuß beim Laufen.
Bei anderen Ethnien kommen sie ins Straucheln
Ein Effekt, der die Wissenschaft ebenfalls beschäftigt, macht sich auch bei Minz bemerkbar: So fällt es dem erfahrenen Super Recogniser schwerer, Menschen zu identifizieren, die eine andere Hautfarbe besitzen als er selbst. Die Wissenschaft nennt das den sogenannten Other-Race-Effect oder Cross-Race-Effect (Fremd-Gruppen-Effekt).
Laut Forschenden achten Menschen aus unterschiedlichen Ethnien auf unterschiedliche Merkmale – und das völlig unbewusst. Eine Vielzahl von Studien zeigt, dass Menschen einander unbewusst nach äußeren ethnischen Merkmalen in Gruppen einordnen. Auch bei sogenannten Lookalikes (Doppelgängern) kommt Minz manchmal ins Straucheln.
Wie erstaunlich gut dafür seine Stärke ist, Menschen Jahre später wiederzuerkennen, beweist der Fahnder Anfang März, als er in Heidelberg zwei jungen Nachwuchs-Fahndern seine Arbeit erklärt. Als sein Blick über den Bismarckplatz streift, bleibt er bei einen Mann hängen. „Der wurde wegen Trickdiebstahls vor drei Jahren gesucht, ich wusste sogar noch, wo ich ihn damals kontrolliert habe“, berichtet Minz und muss lachen.
Tatsächlich spricht er den Mann direkt an, der es nicht fassen kann – und die Tat einfach einräumt. Später untermauert der Abgleich mit damaligen Videoaufzeichnungen seine Tatbeteiligung. „Die meisten können nicht damit umgehen, dass ich weiß, wer sie sind. Meine Kollegen konnten es auch nicht fassen, dass ich den Täter kenne“, sagt der 35-Jährige.
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