Mannheim. Er kam nie wieder zu Bewusstsein und starb im Krankenhaus, ohne seine Mutter noch einmal gesehen zu haben. 13 Jahre alt war der Junge, als sein Leben, das ohnehin vom ersten Tag an eine Herausforderung war, zu Ende ging. Um die traurige Geschichte seiner letzten Stunden geht es in der neunten Folge von „Verbrechen im Quadrat“, dem True-Crime-Podcast des „Mannheimer Morgen“. Gerichtsreporterin Angela Boll blickt zurück auf die Nacht im November 2002, als der Notruf bei der Polizei einging.

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Sie spricht mit Ludwig Hillger, Erster Kriminalhauptkommissar, der kurz danach zum Tatort eilte. Rechtsmedizinerin Kirsten Stein erinnert sich im Podcast an die Untersuchung des Jungen, der bei ihrer ersten Begegnung zwar noch lebte, aber bereits dem Tod geweiht war. Als dritten Gast in der Folge, die ab Donnerstag auf Spotify, Apple Podcast und Deezer zu hören ist, begrüßt Angela Boll den ehemaligen Vorsitzenden des Schwurgerichts am Landgericht Heidelberg, Edgar Gramlich. Er verkündete 2003 das Urteil gegen die Mutter des 13-jährigen Jungen und erklärt, welche Faktoren damals die Entscheidung der Kammer beeinflussten.
Die Gäste
- Ludwig Hillger ist seit 1977 bei der Kripo. Von 1991 bis 2004 war er stellv. Leiter des Dezernats Kapitalverbrechen der Kripo in Heidelberg.
- Nach weiteren Führungspositionen leitet er nun den Kriminaldauerdienst des Polizeipräsidiums Mannheim. Am 1. August geht Hillger in Pension.
- Kirsten Marion Stein ist Fachärztin für Rechtsmedizin und mittlerweile freiberuflich tätig.
- Von 1990 bis Ende 2017 war sie am Institut für Rechtsmedizin und Verkehrsmedizin Heidelberg tätig. In dieser Zeit war sie auch in dem Fall der aktuellen Podcast-Folge im Einsatz.
- Jetzt arbeitet sie als öffentlich bestellte Gerichtsärztin.
- Edgar Gramlich studierte von 1973 bis 1978 in Heidelberg. Bis 1981 war er Referendar.
- Von 1983 bis zur Pension 2018 war er – mit kurzen Unterbrechungen in Mannheim und Karlsruhe – am Landgericht Heidelberg, ab 2000 als Vorsitzender des Schwurgerichts und einer Großen Strafkammer.
„Unüberschaubare Situation“
Als Ludwig Hillger in der Nacht zum 4. November 2002 die Wohnung im Heidelberger Stadtteil Kirchheim betrat, bot sich ihm, wie er sagt, „eine unüberschaubare Situation“. Notarzt und Rettungskräfte reanimierten das Kind, die zwei kleineren Geschwister schliefen nebenan im Zimmer, die Mutter der drei saß mit ihrer Freundin in der Küche – das Badezimmer voller Blut, die Angaben zu dem, was passiert war, widersprüchlich.
„Meine Aufgabe war es, die Lage zu beruhigen“, erzählt Hillger. Er informierte das Jugendamt, das die beiden kleinen Kinder holte, er ließ die Mutter des Jungen zur Vernehmung in die Dienststelle bringen, er befragte die Freundin, verschaffte sich einen ersten Überblick. „Es gab Indizien, dass nur jemand, der in der Wohnung gewesen war, die Tat begangen haben konnte“, erinnert er sich. Fest stand: Der Junge war mit einem Messer verletzt worden. Aber von wem? Die Aussagen der Mutter erschienen dem erfahrenen Ermittler nicht schlüssig, passten nicht zum Spurenbild. „Sie war gefasst“, so beschreibt Hillger seinen Eindruck von der Frau, „eiskalt in ihren Aussagen, auch später – ich habe sie stundenlang vernommen – hat sie nie gefragt, wie es dem Jungen geht oder gefragt, ob er noch lebt.“
Von der Oma erfährt Hillger mehr über das Verhältnis von Mutter und Sohn. Schon lange hatte der Junge Angst, angegriffen zu werden, die Mutter habe oft davon gesprochen, ihren Großen „abstechen“ zu wollen. Immer wieder gab es Streit und Gewalt. Jahrelang schon hatte das Jugendamt einen Blick auf die Familie, hatte den Versuch unternommen, die Vormundschaft einzuklagen, aber das Familiengericht lehnte ab. Der Junge selbst hatte darum gebeten, bei seiner Mutter bleiben zu dürfen.
Er hätte gerettet werden können
Rechtsmedizinerin Kirsten Stein untersuchte den Schwerverletzten im Krankenhaus. Zu dem Zeitpunkt hatte er bereits keine Hirntätigkeit mehr, wurde beatmet. „Bei zügiger ärztlicher Versorgung hätte er überleben können“, stellte sie fest. Doch er verblutete, während seine Mutter mindestens 20 Minuten darüber nachdachte, ob sie den Notarzt alarmieren soll. Zwei Tage nach der Tat starb der Junge. „Die Mutter gab seine Organe frei“, weiß Stein noch: „Das einzig Gute an der Tat.“ In der Vernehmung mit Hillger bricht die Frau irgendwann ein und gesteht, ihren Sohn mit einem Messer angegriffen zu haben. Sie habe ihn zum Zigarettenkaufen geschickt, und er sollte Bier mitbringen. Weil er nicht gehorcht hatte, gab es Stress.
Neuneinhalb Jahre Haft lautete das Urteil nach dem Prozess an der Heidelberger Schwurgerichtskammer. „Wenn man nur das Urteil hört, steht man ein bisschen ratlos da“, sagt Kirsten Stein im Gespräch mit Angela Boll. Sie hätte sich eine höhere Strafe vorstellen können. Für den damaligen Vorsitzenden, Richter Edgar Gramlich, und die weiteren Mitglieder der Kammer, zählte allerdings nicht nur die Tat, sondern auch die Vorgeschichte.
Der psychiatrische Gutachter hatte zwar die Schuldfähigkeit der Angeklagten bestätigt, sie aber als „emotional instabil“ beschrieben. „Die Lebensweise der Frau war unstet, sie trank schon mit 14 Jahren Alkohol, hatte ein hochproblematisches Verhältnis zu dem Jungen“, sagt Gramlich: „Sie bekam viel Hilfe und hat sich darauf immerhin zum Teil eingelassen.“ Die Folgen der Tat seien für die Frau, die eine besonders enge Bindung zu ihren jüngeren Kindern hatte, gravierend gewesen – „sie hat sehr an ihnen gehangen“, erinnert sich Gramlich. Nun mussten sie getrennt voneinander leben, über Jahre hinweg.
Besonders tragisch: Die Tatwaffe war schon einmal beschlagnahmt worden. Die Mutter hatte damit Jahre zuvor ihre Lebensgefährtin angegriffen, war deshalb verurteilt worden. Die Behörden hatten ihr die Tatwaffe wieder ausgehändigt. In der Tatnacht packte sie das Messer erstmals wieder aus – und erstach damit ihren Sohn.
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