Justiz

Urteil nach tödlichem Angriff auf Rouven Laur: „Ihr Sohn starb für den Rechtsstaat“

Die Urteilsbegründung dauert drei Stunden: Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart ist der Prozess nach dem Messerangriff in Mannheim zu Ende gegangen. Der Senatsvorsitzende findet berührende Worte.

Von 
Agnes Polewka
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Der Angeklagte Sulaiman A. kurz vor der Urteilsverkündung. © Marijan Murat/dpa

Stuttgart. Das Urteil im Prozess um das Mannheimer Messerattentat ist für neun Uhr angekündigt, doch die meisten ahnen an diesem wichtigen Tag am Oberlandesgericht in Stuttgart-Stammheim: Es könnte später werden. Der Andrang ist groß – wie am 13. Februar 2025. Bereits zum Auftakt des Prozesses vor sieben Monaten kamen Menschen in den größten Sitzungssaal des Gerichts, um einen zweiten Blick auf den Mann zu werfen, den sie aus dem Video kannten, das das Mannheimer Messerattentat im Livestream ins Internet übertrug.

Einige Sequenzen daraus hatten sich bei vielen tief eingebrannt: Sulaiman A., der zum Sprung ansetzte, die Backen aufgeplustert. Atmung und Bewegung synchronisiert. Das Jagdmesser in der Hand, die 18 Zentimeter lange und vier Zentimeter breite Klinge, die Knochen und Fleisch von fünf Menschen durchbohrte, bevor sie in den Kopf des Polizisten Rouven Laur fuhr. Der Angriff dauerte nur 25 Sekunden.

Sulaiman A. brauchte weniger als eine halbe Minute, um auf dem Mannheimer Marktplatz fünf Menschen zu verletzen und ein Leben auszulöschen.

Statement der Mutter von Rouven Laur berührte den Senat tief

Um kurz nach halb zehn betritt der Staatsschutzsenat den Saal. Der Vorsitzende des Senats, Herbert Anderer, verkündet das Urteil: Sulaiman A. wird unter anderem wegen Mordes und versuchten Mordes in vier Fällen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, außerdem stellt das Gericht die besondere Schwere der Schuld fest und folgt damit den Forderungen der Bundesanwaltschaft.

Anderer setzt sich mit den Opfern der Tat auseinander, er spricht sie direkt an, immer wieder richtet er das Wort an Petra Laur, die Mutter des getöteten Polizisten. Anderer spricht über den emotionalen Bericht der Mutter vor Gericht, „dabei hat sich uns allen wahrscheinlich das Herz zugeschnürt“, sagt er.

Petra Laur, die Mutter des getöteten Polizisten Rouven Laur, steht im Gerichtssaal in Stuttgart-Stammheim. © Marijan Murat/dpa

Später werden die Anwälte der Familie Laur vor Journalistinnen und Journalisten die Urteilsbegründung als außergewöhnlich einfühlsam beschreiben, als eine, die auf die Opfer, auf die Menschen in diesem Verfahren einging.

Anderer spricht zu Beginn über Rouven Laur. In dem Verfahren lernten die Richterin und die vier Richter des fünfköpfigen Senats den getöteten Polizisten besser kennen, über die Berichte seiner Familie, die Aussagen von Kollegen und Weggefährten. Rouven Laur habe seinen Job gerne gemacht, es geliebt, sich um Menschen zu kümmern, auch um „Underdogs“. „Ihr Sohn stand für den Rechtsstaat und so grauenvoll es ist, wenn ich es sage, er starb für den Rechtsstaat“, sagt Anderer.

Der getötete Polizist Rouven Laur. Das Bild entstand bei einem Urlaub in Lissabon. © Familie Laur

Ralf Laur, Rouven Laurs Vater greift nach der Hand seiner Frau. Er wird sie in den kommenden Stunden festhalten – so lange, bis er den Saal vorzeitig verlässt.

Prozess nach Messerangriff in Mannheim: die Russland-Frage und ein wichtiger Zeuge

Dann zeichnet der Senatsvorsitzende die Beweisaufnahme nach, die Lebensgeschichte des Angeklagten, den Tattag. Neben den Eltern und der Schwester von Rouven Laur sind auch fast alle anderen Nebenkläger im Sitzungssaal: Islamkritiker Michael Stürzenberger, Konrad Schneider, Mitglied des rechtspopulistischen Vereins Bürgerbewegung Pax Europa (BPE) und der Mann, dem es kurzzeitig gelang, den Attentäter festzuhalten. Ihre Blicke ruhen auf dem Senat – und auf dem Angeklagten, der während der dreistündigen Urteilsverkündung nur wenige Male aufschaut, meist dann, wenn Herbert Anderer ihn direkt anspricht.

Am Dienstag sitzen auch Menschen im Sitzungssaal, die zu Beginn der Verhandlung nicht dabei sein konnten, weil sie später noch als Zeugen geladen waren. Ulrike Schäfer zum Beispiel, die Mannheimer Polizeipräsidentin. Wenige Wochen nach ihrer bewegenden Aussage war sie mit Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz im Gerichtssaal, als die Mutter und die Schwester des getöteten Polizisten Rouven Laur, Petra und Eve Laur, ihre emotionalen Statements verlasen. Auch zur Urteilsverkündung sind beide wieder angereist.

Mannheims Polzeipräsidentin Ulrike Schäfer im Gerichtssaal in Stuttgart-Stammheim. © Marijan Murat/dpa

Herbert Anderer kündigt eine ausführliche schriftliche Beweiswürdigung an. Bevor er wesentliche Aspekte im Gerichtssaal skizziert, geht er auf wichtige Details in dem Verfahren ein. Zunächst: Russland. Ein Datenprofiler hatte im Auftrag des ZDF auffällige Suchanfragen ausgewertet, die vor der Tat von Russland aus erfolgt sein sollen. Die These: Russland könnte hinter den Terroranschlägen in Deutschland stecken – um Deutschland vor wichtigen Wahlen zu destabilisieren.

„Wir brauchen diese Thematik nicht zu vertiefen, weil sie keine Relevanz für das heutige Urteil hat“, sagt der Vorsitzende. Es könne sein, dass das Thema politisch relevant sei, möglicherweise sogar elementar für unsere Gesellschaft, für das Verfahren gegen Sulaiman A. sei es das nicht.

Dann spricht er über den Passanten, der in das Tatgeschehen eingriff und dem Attentäter so wahrscheinlich zur Befreiung verhalf. Es gebe keinen Zweifel daran, dass diesem das Recht zukam, seine Aussage zu verweigern, zu groß sei das Selbstbelastungsrisiko gewesen.

Danach taucht Anderer in die Beweiswürdigung ein, in die Radikalisierung des Angeklagten, wie Ermittler sie rekonstruieren konnten. Im Anschluss rekapituliert er die Tat im Detail.

Sulaiman A. – gezielter Angriff auf einen Polizisten und geplanter Märtyrertod

„Insgesamt war es sein Ziel, innerhalb kürzester Zeit den größtmöglichen Schaden anzurichten, die größtmögliche Zahl an Todesopfern zu erzielen, um danach von der Polizei getötet zu werden und ins Paradies einzuziehen“, sagt Herbert Anderer. Und weiter: Der Senat sei überzeugt davon, dass Sulaiman A. gezielt Polizeibeamte töten wollte.

Danach spricht Anderer über die vielen Menschen, die im Gerichtssaal in die Rolle von Zeugen gezwungen worden seien, „weil wir sie als Berichterstatter des Angerichteten, der Verletzungen und der Traumata brauchten“. Anderer rekapituliert die „besonderen Momente“ in dem Verfahren, etwa als der Chirurg, der um Rouven Laurs Leben gekämpft hatte, die Stunden im OP beschrieb, seine Hoffnung und seine Verzweiflung. Oder als die jungen Polizeibeamtinnen und -beamten vor Gericht erschienen, mit all ihrem Schmerz und ihren Zweifeln.

Urteil nach Messerangriff in Mannheim: Wie hat der Senat das Strafmaß festgelegt?

Kurz vor Schluss versucht der Senatsvorsitzende den Menschen im Gerichtssaal zu erklären, wie der Senat das Strafmaß festgelegt hat. Die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld sei rechtlich zwingend gewesen. Wird die besondere Schwere verhängt, gilt eine vorzeitige Haftentlassung zur Bewährung nach 15 Jahren als nahezu ausgeschlossen. Und er spricht darüber, warum das Gericht die Sicherungsverwahrung nicht anordnete: weil die Voraussetzungen dafür nicht vorgelegen hätten – etwa die Begehung mehrerer Straftaten, die sich voneinander abtrennen lassen.

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Auch erklärt er ausführlich, was die Sicherungsverwahrung überhaupt bedeutet hätte – und was nicht: Die lebenslange Freiheitsstrafe kann mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung kombiniert werden, die nicht an die Schuld des Verurteilten, sondern an dessen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit anknüpft.

Während die Sicherungsverwahrung im Falle von zeitlich begrenzten Haftstrafen bedeutet, dass ein Verurteilter nach dem regulären Ende in Gefangenschaft bleibt, aber komfortablere Haftbedingungen bekommt, ist dies bei lebenslangen Haftstrafen komplizierter. Dann gilt: Wird der Verurteilte auf Bewährung in die Freiheit entlassen, wird die Sicherungsverwahrung vereinfacht gesagt umgewandelt. Der Verurteilte kommt frei, wird aber intensiver und gegebenenfalls auch länger überwacht.

Dann kommt Herbert Anderer zum Ende. Und gibt den Menschen im Saal, für die der 31. Mai 2024 alles verändert hat, eines mit auf den Weg: Er wünscht ihnen, dass sie irgendwann, irgendwie damit abschließen können – und Frieden finden.

Redaktion

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