Stuttgart. Der Staatsschutzsenat am Oberlandesgericht in Stuttgart-Stammheim hat den Angeklagten Sulaiman A. im Prozess um das Mannheimer Messerattentat unter anderem wegen Mordes und versuchten Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, das Gericht stellte am Dienstag auch die besondere Schwere der Schuld von Sulaiman A. fest – damit gilt eine vorzeitige Haftentlassung zur Bewährung nach 15 Jahren als nahezu ausgeschlossen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Verteidiger kündigten auf Anfrage dieser Redaktion an, keine Revision gegen das Urteil einlegen zu wollen.
Urteil nach Messerangriff: Vorsitzender des Senats wendet sich an Familie des getöteten Polizisten Rouven Laur
Der Vorsitzende des Senats richtete das Wort zunächst an die Familie Laur. Er sagte: „Ihr Sohn stand für den Rechtsstaat und so grauenvoll es ist, wenn ich es sage, er starb für den Rechtsstaat.“ Danach rekonstruierte der Vorsitzende des Senats die Tatvorbereitungen und die Tat, im Detail beschrieb er den 25 Sekunden dauernden Angriff auf dem Marktplatz.
Der Senat zeigte sich überzeugt davon, dass es dem Angeklagten von Beginn an darum ging, den größtmöglichen Schaden anzurichten. Auch sei es von Anfang an dessen Absicht gewesen, Polizeibeamte zu töten, sagte der Vorsitzende. Die Erklärung des Angeklagten, dies sei spontan in der dynamischen Tatsituation geschehen, glaube das Gericht ihm nicht.
Laut Urteilsbegründung des Senats wollte der Angeklagte am 31. Mai 2024 den Märtyrertod sterben. Sulaiman A. hatte während der Verhandlung angegeben, er habe nach der Tat fliehen wollen. Auch die von ihm skizzierte „Turboradikalisierung“ entspreche nicht den Tatsachen, sondern habe bereits im Herbst 2023 begonnen. Schon vor Ausbruch des Gaza-Konflikts habe er sich intensiv mit islamistischen Inhalten beschäftigt, in einer Phase, in der es gut in seinem Leben lief.
Auffällige Suchanfragen aus Russland: „Keine Relevanz für das Urteil“
In der Urteilsbegründung ging der Vorsitzende des Senats zudem auf Rechercheergebnisse des ZDF ein. Ein Datenprofiler hatte im Auftrag des Senders auffällige Suchanfragen ausgewertet, die vor der Tat von Russland aus erfolgt sein sollen. Die These: Russland könnte hinter den Terroranschlägen in Deutschland stecken - um Deutschland vor wichtigen Wahlen zu destabilisieren.
„Wir brauchen diese Thematik nicht zu vertiefen, weil sie keine Relevanz für das heutige Urteil hat“, sagte der Vorsitzende. Es könne sein, dass das Thema politisch relevant sei, möglicherweise sogar elementar für unsere Gesellschaft, für das Verfahren gegen Sulaiman A. sei es das nicht.
Urteilsverkündung nach tödlichem Messerangriff auf Rouven Laur: „Zum Täter wurde nur einer“
„Die Zahl der Opfer der Tat geht deutlich über die hinaus, die hier im Saal Platz genommen haben“, sagte der Vorsitzende. Da seien die Nebenkläger, die Opfer und Angehörigen, aber neben ihnen gebe es Ehepartner, Lebensgefährten und Kinder. Die Geschwister des Angeklagten, die mit der Frage leben müssten: Warum hat unser Bruder das getan, in einem Land, das sie alle aufgenommen hat?
Betroffen seien Freunde, die Freunde von Rouven Laur. Lehrerinnen und Lehrer, die so warmherzig über den Angeklagten gesprochen hätten, die in Einrichtungen für Integration für ihn gekämpft hätten.
Alle, die im Gerichtssaal als Zeugen gehört wurden, hätten alles richtig gemacht. „Sie haben ihr Bestes gegeben“, sagte der Vorsitzende. Und weiter: Wir alle sollten froh sein, solche Menschen zu haben – in den Krankenhäusern und im Polizeidienst. „Zum Täter wurde nur einer und das sind Sie, Herr A.“
Gericht geht auf Forderung nach Sicherungsverwahrung ein
In der Urteilsbegründung ging der Vorsitzende noch einmal auf die häufig geforderte Anordnung der Sicherungsverwahrung ein, für die die Voraussetzungen nicht vorgelegen hätten – etwa die Begehung mehrerer Straftaten, die sich voneinander abtrennen lassen. Und er erklärte ausführlich, was sie überhaupt bedeutet hätte – und was nicht: Die lebenslange Freiheitsstrafe kann mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung kombiniert werden, die nicht an die Schuld des Verurteilten, sondern an dessen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit anknüpft.
Während die Sicherungsverwahrung im Falle von zeitlich begrenzten Haftstrafen bedeutet, dass ein Verurteilter nach dem regulären Ende in Gefangenschaft bleibt, aber komfortablere Haftbedingungen bekommt, ist dies bei lebenslangen Haftstrafen komplizierter. Dann gilt: Wird der Verurteilte auf Bewährung in die Freiheit entlassen, wird die Sicherungsverwahrung vereinfacht gesagt umgewandelt. Der Verurteilte kommt frei, wird aber intensiver und gegebenenfalls auch länger überwacht.
Am Ende artikuliert der Vorsitzende den Wunsch, die Beteiligten mögen irgendwann und irgendwie Frieden mit dem 31. Mai 2024 schließen – ohne sich vom Rechtsstaat abzuwenden.
Nach Urteil gegen Sulaiman A. - Familie Laur äußert sich zunächst nicht
Familie Laur äußerte sich nach der Urteilsverkündung zunächst nicht öffentlich. Julia Mende, die gemeinsam mit Rechtsanwalt Thomas Franz die Eltern des getöteten Polizisten Rouven Laur vertrat, sagte nach dem Urteil: „Unsere Mandanten befinden sich in einem Wechselbad der Gefühle. Zum einen ist da eine Art Erleichterung, nachdem das Urteil verkündet wurde. Auf der anderen Seite bleibt natürlich dieser unendliche Schmerz, den auch keine Strafe wettmachen kann.“ Ihr Kollege Thomas Franz hob die empathische Urteilsbegründung des Senatsvorsitzenden hervor. „Es ist nicht selbstverständlich, dass Vorsitzende so dezidiert, so einfühlsam auf Opfer und Hinterbliebene eingehen.“
Das Ehepaar Laur hat sein Optiker-Geschäft in Neckarbischofsheim (Rhein-Neckar-Kreis), dem Heimatort von Rouven Laur, mittlerweile geschlossen. Die Familie sei zu sehr belastet, um den Laden weiterzuführen, hieß es während der Plädoyers der Nebenklage. Innerhalb eines Monats nach dem tödlichen Angriff hatten Menschen allerdings allein auf der Internet-Plattform gofundme.com rund 600.000 Euro für die Familie gespendet.
Mannheims Oberbürgermeister Specht: Urteil nach tödlichem Angriff auf Rouven Laur „kein Abschluss“
Für Mannheims Oberbürgermeister Christian Specht (CDU) ist das Urteil nach der Messerattacke in Mannheim kein Abschluss, sondern ein wichtiger Schritt in der Verarbeitung der Tat. Für die Familie von Rouven Laur bleibe der unfassbare Verlust ihres Sohnes und Bruders, den auch das Urteil nicht wiedergutmachen könne, wird Specht in einer Mitteilung zitiert. „Die Stadt Mannheim wird auch weiterhin an der Seite der Familie, der Polizei und der Bürgerinnen und Bürger stehen und sich für Sicherheit, Zusammenhalt und ein respektvolles Miteinander einsetzen“, so Specht. Der Mord an Rouven Laur habe nicht nur Mannheim, sondern ganz Deutschland zutiefst erschüttert.
Innenminister Strobl: „Urteil deutliches Zeichen des Rechtsstaats“
„Der Tod von Rouven Laur stimmt uns auch heute – über ein Jahr später – noch immer zutiefst traurig“, sagte Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) nach der Urteilsverkündung. „Rouven Laur wurde ermordet, weil er anderen helfen, weil er andere Menschen retten wollte“, so Strobl, der von „schwersten und bittersten“ Stunden für die Polizei, für seine Familie, seine Angehörigen und Freunde sprach. „Das heutige Urteil ist ein deutliches Zeichen unseres Rechtsstaates: Diese Tat bleibt nicht folgenlos – auch wenn das unseren Schmerz nicht beseitigen kann.“
Das Polizeipräsidium Mannheim wollte sich auf Anfrage nicht zu dem Urteil äußern. Mannheims Polizeipräsidentin Ulrike Schäfer war jedoch bei der Urteilsverkündung in Stuttgart anwesend.
Gewerkschaft der Polizei (GdP) reagiert auf Urteil nach Messerangriff in Mannheim
In einer ersten Stellungnahme reagierte Thomas Mohr, Vorsitzender der GdP Mannheim, auf das Urteil: „Für uns war von Beginn an klar, dass nur ein Urteil auf Lebenslang dem unfassbaren Leid und der Brutalität dieser Tat gerecht werden kann.“ Mit dem Urteil sei der juristische Teil abgeschlossen. Für Familie, Angehörige, Freunde und Kolleginnen und Kollegen des getöteten Polizisten Rouven Laur bedeute das zumindest einen Abschluss und die Möglichkeit, etwas mehr Ruhe zu finden.
Die Gewerkschaft der Polizei betonte in der Stellungnahme, dass das Urteil ein wichtiges Signal für die gesamte Polizei in Deutschland darstelle. Es unterstreiche die Bedeutung eines konsequenten Rechtsstaates, der gerade in solchen Fällen Härte und Klarheit zeigen müsse.
Frank Raisig, Vorsitzender des Bezirksverbandes Kurpfalz der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), richtete nach dem Urteil einen Appell an die Politik: „Es braucht klare gesetzliche Regelungen, die es ermöglichen, Schwerstkriminelle auch in Länder wie Afghanistan zurückzuführen – insbesondere, wenn sie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen.“ Er forderte auch eine umfassende politische und interne Aufarbeitung der Tat: „Die zögerliche Reaktion der politischen Entscheidungsträger nach dem Mord an Rouven Laur ist nicht akzeptabel. Es braucht konkrete Maßnahmen zum Schutz der Polizeibeamtinnen und -beamten sowie eine entschlossene Haltung gegenüber radikalisierten Gewalttätern“, so Raisig.
DITIB Mannheim: „Unser Rechtsstaat funktioniert“
Cem Yalcinkaya, Gemeindesekretär DITIB Mannheim, sagte nach der Urteilsverkündung: „Dieser Prozess hat gezeigt, dass unser Rechtsstaat funktioniert. Wir haben Vertrauen in Polizei und Justiz.“ Es sei wichtig, dass man solche schrecklichen Taten nicht mit Fragen der Zuwanderung verknüpft. „Wir alle hier wollen ein friedliches Miteinander, dafür engagieren wir uns auch in der Mannheimer Zivilgesellschaft.“
Video von Messerangriff in Mannheim als wichtiges Beweismittel im Prozess
Ein wichtiges Beweismittel in dem Prozess, der Mitte Februar seinen Anfang nahm, war das Video von der Tat, das kurz danach zigfach in den sozialen Medien geteilt und überall auf der Welt weiterverbreitet wurde. Der Angeklagte legte außerdem in einer stundenlangen Befragung ein umfassendes Geständnis ab. Er gab an, sich in kürzester Zeit im Internet radikalisiert zu haben. Der Senat sezierte mit verschiedenen Sachverständigen vor Gericht eine Vielzahl der Chatnachrichten, die der Angeklagte mit radikalen Einflüsterern austauschte. Eine Schlüsselrolle bei der Radikalisierung von Sulaiman A. kam einem Chatpartner mit dem Namen „OR“ zu, seine Identität gilt bis heute als ungeklärt.
Der Verurteilte Sulaiman A.
- Der Verurteilte Sulaiman A. war vermutlich mit elf Jahren aus Afghanistan geflohen.
- 2013 kam er nach Frankfurt und stellte nach Informationen der Deutschen Presse- Agentur einen Antrag auf Asyl . Dieser wurde abgelehnt. Es wurde allerdings ein Abschiebeverbot verhängt, vermutlich wegen des jugendlichen Alters.
- Sulaiman A. war der Polizei vor der Tat nicht bekannt. Bis zur Tat hatte A. mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern im hessischen Heppenheim gelebt - rund 35 Kilometer nordöstlich von Mannheim.
- Die Tat löste eine Diskussion über die Abschiebung ausländischer Straftäter aus. Kurz danach kündigte die damalige Ampel-Regierung an, Abschiebungen von Schwerstkriminellen auch nach Afghanistan wieder möglich zu machen. (dpa)
Prozess nach Messerangriff in Mannheim: 60 Zeugen und 15 Gutachter
Über 60 Zeugen und 15 Gutachter wurden in dem Verfahren gehört, darunter Polizisten, die am 31. Mai auf dem Marktplatz im Einsatz waren, Ersthelfer und Ärzte, die um das Leben des getöteten Polizisten Rouven Laur kämpften. Auch die Mannheimer Polizeipräsidentin Ulrike Schäfer und der Präsident des Landeskriminalamts in Baden-Württemberg, Andreas Stenger, waren unter den Zeugen.
Mitte August hatten die Mutter und die Schwester des getöteten Polizisten Rouven Laur sich im Zuge der Plädoyers mit bewegenden Berichten an das Gericht gewandt.
Polizist Rouven Laur stirbt nach Messerangriff auf Marktplatz in Mannheim
Der Afghane Sulaiman A. war am 31. Mai 2024 nach Mannheim auf den Marktplatz gefahren, um auf einer Kundgebung des rechtspopulistischen Vereins „Bürgerbewegung Pax Europa“ (BPE), den Islamkritiker Michael Stürzenberger zu töten. Dabei verletzte er Stürzenberger und vier weitere Männer teils schwer. Dem Polizisten Rouven Laur fügte er so gravierende Verletzungen zu, dass er starb. (mit dpa)
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