Mannheim. In welcher Situation muss sich eine Tochter befinden, wenn sie sich über die Nachricht freuen kann, dass ihr Vater verschleppt wurde? Shay Benjamin erinnert sich noch gut an jene Minuten, in denen israelische Militärs ihr und ihrer Familie nach 57 Tagen Ungewissheit erklären, dass Vater Ron am 7. Oktober 2023 von Hamas-Terroristen nicht ermordet, sondern verschleppt worden ist. Eine „verrückte Freude“ sei das gewesen. Nun ist aber klar: Papa lebt.
Genau fünf Monate nach der Terrorattacke der palästinensischen Hamas sitzt Shay Benjamin auf dem Podium des Jüdischen Gemeindezentrums in Mannheim und erzählt über jene Stunden im Morgengrauen des 7. Oktober 2023 und über die Zeit danach, in der das Schicksal der Geiseln, vor allem die Unklarheit darüber, Familie Benjamin und viele weitere Tag und Nacht beschäftigt.
Terrorangriff der Hamas - Shay Benjamin erfährt davon in Dubai
Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Heidrun Kämper, spricht eingangs von der „historischen Zäsur“ des 7. Oktober. Durch viele persönliche Beziehungen nach Israel sei die auch in Mannheim zu spüren gewesen, allemal im Jüdischen Gemeindezentrum. „Dieser Abend ist ein Ausdruck dieser Zäsur.“
Anschließend beschreibt Benjamin, was für viele im Publikum - in dem unter anderem Oberbürgermeister Christian Specht (CDU) sitzt - auch fünf Monate später noch schwer zu begreifen ist. Eigentlich leben Benjamins in der Nähe von Tel Aviv. Am Wochenende aber unternimmt der lebenslustige Ron Benjamin, so schildert es Shay, mit Auto und Fahrrad gerne Touren durch das Land - so auch an jenem Samstag im Oktober in einem Kibbuz nahe Gaza.
Shay ist am 7. Oktober auf der Heimreise von einem Urlaub, als sie während einer Zwischenlandung in Dubai vom Terrorangriff der Hamas erfährt, die 1139 Menschen töten und etwa 240 verschleppen. „Mein Vater hat geschrieben, dass er Raketen fliegen hört, aber keinen Schutzraum findet.“ Es ist das letzte Lebenszeichen von ihm persönlich. „Als ich ihn nicht mehr erreicht habe, wusste ich, dass etwas passiert ist“, sagt seine Tochter. „Ich habe meinen Vater immer erreicht - egal, wie wichtig das Meeting war, in dem er gerade saß.“ Esther Lewit übersetzt den englischen Vortrag auf hervorragende Weise ins Deutsche.
Die Familie telefoniert Krankenhäuser und Bewohner des Kibbuz ab, deren Nummern öffentlich sind. „Wir können ihn nicht suchen. Da draußen sind überall Terroristen“, erinnert sich Shay an die Gespräche. „Vor dem 7. Oktober hat sich niemand vorstellen können, dass so viele Terroristen nach Israel kommen können.“ Am Tag darauf wird Rons Auto gefunden. Einschusslöcher zeugen vom Überfall - Blut aber gibt es nur wenig. „Wir wissen deshalb, dass mein Vater verletzt war, aber wohl nicht schwer.“
Viele Frauen sind frei, von den Männern fehlt jede Spur
Auf Videos, die die Hamas verbreiten, ist Ron nicht zu sehen. Weil unklar ist, ob er lebt oder tot ist, hätten sich die Wochen danach angefühlt wie Shiva-Sitzen, erzählt Shay. Im Judentum trauern enge Freunde die ersten sieben Tage nach einer Beerdigung mit der Familie, in dem sie mit ihr zusammensitzen und sie bekochen. Familie und Freunde von Benjamins seien zwischen der Trauer und der Hoffnung hin- und hergerissen gewesen. „Mein Vater war 57 Tage einfach verschwunden.“
Seit der Nachricht, dass Ron einer der anfangs fast 240 Geiseln sei, sind Monate vergangen. Etwa 110 Frauen sind wieder frei. Vor allem von Männern aber fehlt jede Spur. Ob ihr Vater noch lebt? Das weiß Shay Benjamin nicht. Vielen ginge das so - zumal die letzten Geiseln bereits vor mehr als 100 Tagen freigelassen wurden. „Was mit den anderen Geiseln seitdem passiert ist, weiß niemand.“
Benjamin erzählt vom Forum, in dem sich Familien der Geiseln vernetzen und unterstützen. Einnahmen und Spenden des Abends kommen dieser Organisation zugute.
Die 25-Jährige wirkt den ganzen Vortrag über gefasst. Das mag auch daran liegen, dass sie viele Städte bereist, um ihre Geschichte zu erzählen und darin mittlerweile fast Routine zu haben scheint. „Ich hoffe, dass ich das nicht mehr oft machen muss.“ Trotz ihrer Gefasstheit hallt der Abend bei Zuhörerinnen und Zuhörer sicher noch Tage nach.
Die attestieren Shay Benjamin Stärke, Mut oder Tapferkeit. „Ich weiß nicht, wie lange ich noch stark sein kann“, erwidert sie. „Dass wir wissen, wie es den Geiseln ergeht, bricht mein und unser Herz jeden Tag ein bisschen mehr.“ Benjamin erzählt von sexueller, physischer und psychischer Folter, und beruft sich auf Berichte Freigelassener. „Es ist nicht menschenwürdig. Sie müssen jetzt alle nach Hause kommen.“
Zuhörerin will wissen: Was kann man von Mannheim aus tun?
Benjamin wisse nicht, ob die israelische Regierung genug und auch das Richtige unternehme. „Die Regierung redet nicht mit uns“, sagt sie. „Ehrlich gesagt, bin ich mir manchmal nicht sicher, ob sie genug tut.“ Auch nicht, „ob Israel die Hamas besiegen kann“, antwortet Benjamin auf eine Frage. Das hoffe sie natürlich. „Die Hamas ist eine Idee. Kann man eine Idee besiegen? Wenn man die Anführer der Hamas tötet, kommen neue nach“, fürchtet sie aber. „Wir alle wollen Frieden. Wir werden aber für unser Land kämpfen und uns unser Leben nicht nehmen lassen. Es kann keinen Sieg geben, ohne dass die Geiseln zu Hause sind.“
Was kann man von hier aus tun?, fragt eine Zuhörerin. Den Druck aufrechterhalten, wünscht sich Benjamin - etwa durch Gespräche mit Abgeordneten oder über Soziale Medien. „Es darf nicht in Vergessenheit geraten und keine Normalität werden, dass Menschen zum Teil aus Betten heraus verschleppt wurden.“
Die Geschichte einer unmittelbar Betroffenen zu hören, „berührt besonders“, sagt Kämper abschließend. „Trotzdem kann niemand von uns wirklich nachvollziehen, in welcher Situation sich Shay befindet.“
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