Mannheim. Der Samuel-Adler-Saal in der Jüdischen Gemeinde war gut gefüllt mit interessiertem Publikum, das zur Autorenlesung von „Angriff auf Deutschland: Die schleichende Machtergreifung der AfD“ gekommen war. Für das 2024 erschienene Buch haben die Journalisten Michael Kraske und Dirk Laabs jahrelang dort recherchiert, wo man sich als Person ohne AfD-Tendenz kaum hintraut: ostdeutsche Brennpunkte und Parteiveranstaltungen. Informationen lieferten auch geheime Chat-Protokolle und Aussteiger.
Eingeladen wurden die Autoren von der jeweiligen Mannheimer Fraktion der SPD, den Grünen und Die Partei. Cris Cosmo stellte, passend zur vorgezogenen Bundestagswahl, seinen neuen Song „Mach dein Kreuz“ vor, mit dem er junge Leute auffordern will, demokratische Parteien zu wählen. „Es geht heute um Aufklärung über das, was eine Rechtsaußen-Partei umtreibt“, sagte Heidrun Deborah Kämper, SPD-Stadträtin und Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde.
„Die schleichende Machtergreifung – klingt das vielleicht übertrieben? Und jetzt das Ereignis gestern im Bundestag. Ein Holocaust-Überlebender hält eine Ansprache, dann kommt es zu der Abstimmung, und am Ende liegen sich die AfD-Mitglieder in den Armen“, sagte Dirk Laabs angesichts der umstrittenen Bundestagsabstimmung zu den Asylplänen der CDU.
Laut den Autoren greift Höcke ungeniert Nazi-Themen auf
Vor einem Jahr gab es rund um den Holocaust-Gedenktag am 27. Januar bundesweite Demos, nachdem das Recherche-Netzwerk Correctiv über das Treffen von Rechtsextremen in Potsdam berichtet hatte. „Tausende sind auf die Straße gegangen, weil die AfD bei diesem Treffen von Remigration gesprochen hat. Da wurde vielen klar: Die meinen unsere Nachbarn, Freunde und Kollegen“, so Michael Kraske. Er habe das Buch „Nie zweimal in denselben Fluss“ von Björn Höcke gelesen, darin sei von groß angelegten Remigrations-Szenarien die Rede, von „unschönen Szenen“, von der Bereitschaft zur Gewalt, um die Ziele der Partei zu erreichen.
Schon seit fünf Jahren wird der Vorsitzende der AfD im Thüringer Landtag vom Verfassungsschutz beobachtet. „Aussteiger haben uns erzählt, die Lösung der AfD sei die millionenfache Remigration. Höcke kalkuliert damit, mit 20 bis 30 Prozent weniger Menschen in Deutschland leben zu können. Er rechnet die Leute ab, die einen Migrationshintergrund haben. Er würde radikal und systematisch vorgehen.“
Höcke will Rückabwicklung des modernen Deutschlands
Die Fehlentwicklung sieht der als rechtsextrem eingestufte Politiker Ende der 1960er Jahre, da zu dieser Zeit den Gastarbeitern der dauerhafte Aufenthalt genehmigt wurde. Seit den 1970er Jahren stellen laut Höcke die Migranten eine finanzielle Belastung für Deutschland dar – ohne Rücksicht darauf, dass diese arbeiten gehen und Steuern zahlen.
Er wünscht sich eine Rückabwicklung des modernen Deutschlands, Homogenität statt Vielfalt. Nazi-Themen werden ungeniert aufgegriffen. „Wer erinnert sich an das Wahlplakat von 2017 mit der schwangeren Frau und den Spruch ,Neue Deutsche? Machen wir selber‘? Daran sah man die Nazi-Ideologie“, fügte Kraske hinzu.
Zeitzeugin Spagerer: „Wenn ich nichts mache, bringt es nichts“
Um die Gefahr zu verdeutlichen, die von der AfD ausgeht, beleuchteten die Autoren die Richterin Birgit Malsack-Winkemann näher. Die ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete stand im letzten Jahr mit weiteren Angeklagten der „Reichsbürger“-Szene wegen Unterstützung der terroristischen Vereinigung „Patriotische Union“ vor Gericht. Auch der „Reichsbürger“ Frank Haußner hatte Kontakt zu Höcke. „Die AfD steht Seite an Seite mit Reichsbürgern und Neonazis. Sie sind mittendrin in der Partei“, so Kraske.
„Die Kriminalität bei AfD-Politikern ist hoch, einige standen wegen verschiedener Delikte vor Gericht und sind danach nicht der Partei verwiesen worden. Der Einzug in den Bundestag bedeutete für die AfD die Öffnung der Geldschleuse. Wir finanzieren selbst unsere Feinde“, meinte Laabs. Die Aussteigerin Freia Lippold-Eggen, ehemalige AfD-Stadträtin aus Bad Kissingen vergleiche die Partei offen mit der NSDAP, denn sie nutze die Schwächen der Demokratie aus, um sie abzuschaffen. Wie steht es mit einem Parteiverbot?
„Die NPD war nicht bedeutend genug, um sie zu verbieten. Aber die AfD ist bedeutend, was ist, wenn sie stärkste Partei wird?“, stellte Laabs in den Raum. „Deshalb gibt es das mögliche Parteiverbot in der Verfassung der Bundesrepublik. In der Weimarer Republik gab es das noch nicht.“
Publikumsdiskussion zum Abschluss
Nach der Buchvorstellung fand eine Publikumsdiskussion statt. „Haben wir verlernt, Politik zu leben? Pegida und NPD haben wir noch kleinhalten können, jetzt haben wir die AfD im Gemeinderat“, sagte Gerhard Fontagnier. „Die AfD ist mit ihrer Kernerzählung durchgedrungen. Höcke sagt: ,Deutschland ist ein Irrenhaus, und wir sind die Retter. Wir müssen das Land abschotten und die Grenzen dichtmachen. Das Böse ist das Fremde‘“, sagte Kraske zusammenfassend.
„Dieses Mal kann sich keiner mehr hinstellen und sagen, er wisse nicht, wofür diese Partei steht.“ Im Publikum saß auch die Zeitzeugin Karla Spagerer: „Ich bin 95 Jahre alt. Seit 2018 gehe ich an Schulen, um zu berichten. Ich weiß nicht, ob es etwas bringt. Aber wenn ich nichts mache, bringt es nichts.“
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