Kultur

So war der Sachbuch-Slam 2023 im Mannheimer Technoseum

Sechs Minuten, ein Buch, eine Bühne: Wie stellt man ein Sachbuch so vor, dass es das Publikum von den Sitzen reißt? Acht Slammer meisterten diese Herausforderung im Mannheimer Technoseum. Gewinnen konnte nur eine

Von 
Stefanie Ball
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Das Publikum erklärt Eva-Lisa (l.) per Applaus zur Gewinnerin des Sachbuch-Slams 2023. Die Lautstärke misst Moderatorin Sandra da Vina. © Christoph Blüthner

Mannheim. Und das Krasse ist eigentlich, dass hier in Kleinfeisten
Niemand merkt, was alles die Frauen so leisten.
Drum beschließen sie, alles, was man nicht Arbeit nennt
und was weder Gehalt noch Pausenzeit kennt,
grundsätzlich erst mal nicht mehr zu machen. Ja. Einfach so.
Niemand kocht mehr für alle, tagein und tagaus
Niemand stellt mehr rechtzeitig die Mülltonnen raus
Niemand fährt mehr wie ein Taxi zum Holen und Bringen
Niemand will waschen und Putztücher schwingen
Niemand denkt an Geburtstage, niemand pflegt die Kontakte
Niemand backt mehr die Kuchen für alle Festakte
Niemand weiß mehr, wer wann wo zum Impfen gehen muss
Niemand sagt mehr, so Kinder, jetzt ist mal Schluss
Und die Konsequenzen? Ihr ahnt es ja auch:
Ein paar Tage fällt den Männern nix auf. Und dann sehr bald schon bricht die ganze Welt zusammen. Männer nackt und ganz hungrig, Mülltonnen in Flammen

So erzählt es Eva-Lisa in ihrer Geschichte über das fiktive Dorf Kleinfeisten, das exemplarisch für das Zeitmanagementproblem steht, das die Journalistin Teresa Bücker in ihrem Sachbuch „Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit“ in den Fokus rückt. Viel Zeit hat Eva Lisa nicht, das 400 Seiten umfassende Buch in sechs Minuten zusammenzufassen.

Nominierte Bücher und die Slamer

  • Sarah Angelmahr (Wachenheim, 29 Jahre): Ewald Frie, „Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland“.
  • Eva-Lisa (Mülheim an der Ruhr, 36 Jahre): Teresa Bücker, „Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit“.
  • Alexander Schönau (Augsburg, 28 Jahre): Elisabeth Wellershaus, „Wo die Fremde beginnt. Über Identität in der fragilen Gegenwart“.
  • Jaqueline Schauer (Hanau, 31 Jahre): Meron Mendel, „Über Israel reden. Eine deutsche Debatte“.
  • Anna Lisa Azur (Bonn, 24 Jahre): Martin Schulze Wessel, „Der Fluch des Imperiums. Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte“.
  • David Spencer (Aachen, 32 Jahre): Judith Kohlenberger, „Das Fluchtparadox. Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen“.
  • Lukas Bühner (Ulm, 24 Jahre): Hanno Sauer, „Moral. Die Erfindung von Gut und Böse“.
  • Paula Martine (Frankfurt, 20 Jahre): Omri Boehm, „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität“. 

Denn die 36-Jährige ist Teilnehmerin des Deutschen Sachbuch-Slams, der am Mittwochabend im Mannheimer Technoseum über die Bühne geht. Ein Zeitlimit gehört zu einem Slam ebenso dazu wie der Umstand, dass es am Ende das Publikum in der Hand hat, wer diesen gewinnt, wie die Moderatorin Sandra da Vina, selbst Poetry-Slammerin und Kabarettistin, vor rund 140 Zuschauerinnen und Zuschauern erklärt. „Zum Schluss entscheidet die Lautstärke des Applauses über den Sieg.“ Nach drei Klatschrunden, aufgezeichnet von einem Dezibel-Messgerät - „Wir lösen das, wie es sich gehört fürs Technoseum, mit Technik“, sagt da Vina - steht die Siegerin fest: Es ist Eva-Lisa aus Mülheim an der Ruhr.

Komplexes auf den Punkt gebracht

Es ist das dritte Mal, dass das Technoseum in Kooperation mit der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels den Sachbuch-Slam austrägt. Der Börsenverein vergibt - ebenfalls seit drei Jahren - einen Sachpreis für das beste Sachbuch des Jahres. Preisverleihung in diesem Jahr ist der 1. Juni. Der Slam ist sozusagen die Parallel- oder Vorab-Veranstaltung, bei der in kurzweiliger Form komplexe Sachverhalte auf den Punkt gebracht werden.

Weil die Shortlist für den Sachbuchpreis acht Titel enthält, treten beim Wettstreit auch acht Slammerinnen und Slammer an. Die Bücher wurden ihnen zugelost, eine zusätzliche Herausforderung. „Normalerweise ist man beim Slam thematisch total frei, da kann man über Brathähnchen erzählen“, so Moderatorin da Vina. Beim Sachbuch-Slam gibt es eine Vorlage - nämlich die nominierten Bücher. Herausfordernd also die Themen, die von Moral und Identitäten handeln, vom Reden über Israel, einem widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen sowie dem Abschied vom bäuerlichen Leben. „Könnte sein, dass man da mit einem Thema in Berührung kam, mit dem man vorher noch nie etwas zu tun hatte, und man nie auf die Idee gekommen wäre, einen Text darüber zu schreiben“, meint da Vina.

Große Reichweite an Themen

So schlüpft die 29 Jahre alte Sarah Angelmahr in die Rolle von Ewald Frie, der in seinem Buch „Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland“ autobiografisch von seinem Leben als eines von elf Kindern auf einem Bauernhof im Münsterland erzählt. Lukas Bühner kämpft sich an Hanno Sauers Abhandlung über die Moral ab und ist sich sicher, dass Gut und Böse im Jahr 1971 erfunden wurden. Da sei nämlich der Ur-Thermomix auf den Markt gekommen, und seitdem stritten Fans und Gegner unerbittlich über dessen Notwendigkeit. Anna Lisa Azur wiederum, Gewinnerin des Sachbuch-Slams 2022, findet in der Auseinandersetzung mit Martin Schulze Wessels Buch über die neuzeitliche russische Geschichte Positives - dass die EU eine Sprache spricht: die Friedenssprache.

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Am Ende muss sich Sarah Angelmahr, die in Wachenheim Schreibwerkstätten anbietet, Eva-Lisa geschlagen geben. Auf Platz drei landet der 24-jährige Ulmer Lukas Bühner. Der Philosoph und Autor Hanno Sauer sitzt ebenfalls im Publikum; es war die Idee der Teilnehmenden aus dem vergangenen Jahr, die Autorinnen und Autoren der Sachbücher zum Slam einzuladen.

Doch dafür fehlte offensichtlich den meisten die Zeit.

„Wollt ihr wissen, wie wir es schaffen, nicht mehr die 48-Stunden-Woche als Erfüllung und als Modell für Glück und Zufriedenheit wahrzunehmen?“, fragt Eva-Lisa das Publikum. „Dann lest dieses Buch. Denn dafür hab’ ich jetzt keine Zeit mehr“.

Freie Autorin

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