Durch die Corona-Pandemie sind in den vergangenen zwei Jahren viele vereins- und schulsportliche Tätigkeiten ausgefallen. Das hat gravierende Auswirkungen auf die Fitness der Kinder und Jugendlichen. „Ich bin besorgt über die Entwicklungen im Bereich Schul- und Freizeitsport und dass das Fitnesslevel so deutlich zurückgegangen ist“, sagt Sabine Hamann, Schulamtsdirektorin und Vorsitzende des Sportkreises Mannheim auf „MM“-Nachfrage.
Im Vergleich zum Zeitraum vor der Pandemie ist der Fitness-Gesamtwert deutlich zurückgegangen. Das hat jedenfalls die Kinderturnstiftung Baden-Württemberg Anfang Juni in ihrem Fitnessbarometer veröffentlicht, das seit 2010 jährlich erhoben wird. Der Negativtrend hinsichtlich der motorischen Fähigkeiten habe sich demnach bereits nach neun Monaten Pandemie erkennen lassen: Die Kinder wurden tendenziell langsamer und weniger ausdauernd. In den beiden vergangenen Corona-Jahren habe die Ausdauer und die Schnelligkeit weiter abgenommen. „Die Kinder sind weniger beweglich geworden, haben sich konditionell, beim Dehnen und Strecken, in ihren Bewegungsabläufen und in ihrer Schnelligkeit verschlechtert. Das sind die sichtbaren und gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie, aber der Bewegungsmangel ist auch ein großer psychischer Faktor. Das merkt man im sozial-emotionalen Bereich“, so die Sportkreis-Vorsitzende.
Auch Volker Proffen, Vorsitzender des TSV Neckarau, schätzt den Fitnesszustand der Kinder nach der Pandemie als schlechter ein. „Das liegt einerseits daran, dass die Vereine geschlossen hatten, aber auch, weil der Schulsport eine Zeit lang nicht stattgefunden hat.“ Die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlene eine Stunde Bewegung pro Tag sei ohnehin schwierig einzuhalten.
Bewegungsmangel ist auch ein großer psychischer Faktor
Wie der Fitnessbarometer habe auch Proffen in seinem Verein beobachtet, dass die Kinder weniger ausdauernd und beweglich geworden seien, und auch die Koordinationsfähigkeiten seien merklich eingeschränkt. Er betont, dass einige Kinder die Defizite inzwischen wieder aufgeholt hätten. Doch: Bei einem Spendenlauf Anfang Juni hätten von 80 Grundschulkindern zehn Prozent nicht einmal eine Stadionrunde im Dauerlauf geschafft. „Die gute Nachricht ist, dass man das wieder aufholen kann. Aber im Verein werden wir überrannt von Kindern von Jugendlichen und haben Probleme, Trainer zu bekommen. Wir können nicht alles aufholen, was von hauptamtlichen Stellen versäumt wurde. Für zukünftige Maßnahmen braucht man einen Plan, um zum Wohl der Kinder und Jugendlichen besser aus der Situation herauszukommen.“
Sabine Hamann will da ansetzen. „Damit diese Corona-Delle nicht zu einem Knick wird, haben wir das Ohr an den Vereinen. Wir hören nach, wie sich diese Ergebnisse vor Ort zeigen, wie wir helfen und unterstützen können“, sagt sie. Um die Kinder zur Bewegung zurückzuführen, werde dem Bewegungsmangel auf vielen Ebenen entgegengesteuert. Die Schulsportaktionswoche vom 19. bis 26. Juli setzt etwa ein Zeichen für die Werte des Sports.
Und Erwachsene?
- Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Technischen Universität München haben herausgefunden, dass 35 Prozent der Erwachsenen seit Beginn der Corona-Pandemie an Gewicht zugenommen haben. Im Durchschnitt 6,5 Kilogramm.
- Ein knappes Drittel der Befragten gibt an, mehr und häufiger zu essen. Dabei handelt es sich dann meist um Lebensmittel wie Süßwaren, süße Backwaren, Knabberartikel oder Fast Food.
- 1000 Menschen zwischen 18 und 70 Jahren wurden befragt – 42 Prozent der Befragten haben sich im letzten Jahr etwas und 20 Prozent sehr durch die Pandemie seelisch belastet gefühlt. red/lok
Der Sportkreis Mannheim macht außerdem bei der Europäischen Woche des Sports „be active“ vom 23. bis 30. September mit, in der alle Vereine aufgerufen sind, sich den Kindern und Jugendlichen zu öffnen. „Für alle in dieser Zeit neu gewonnenen Mitglieder bezuschussen wir den Beitritt zum Verein mit einem Betrag von 50 Euro. Mit diesem Angebot möchten wir Eltern dazu anregen, ihre Kinder zum Vereinssport zu bringen. Denn Kinder machen ja in der Regel nicht allein Sport, sondern in Gemeinschaft“, sagt Hamann.
Nach der Einschätzung von Proffen wäre es durchaus möglich gewesen, den Bewegungsmangel bei den Kindern und Jugendlichen nicht so einschneidend werden zu lassen: Schließlich hätten Sportvereine erst wieder auf den Platz zurückkehren dürfen, als das öffentliche Leben wieder hergestellt war. „Sport im Freien hätte eigentlich als erstes wieder öffnen müssen - ohne Nutzung der Umkleidekabinen. Das sollte man künftig neu bewerten“, sagt Proffen.
Der Vereinschef hinterfragt, ob es überhaupt sinnvoll sei, im Falle eines erneuten Lockdowns den Draußensport zu verbieten. Da ist es gut, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) jetzt einen weiteren Lockdown für den kommenden Herbst und Winter ausgeschlossen hat. Proffen bezieht sich auf das Ergebnis einer Studie des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), die auch im „British Journal of Sports Medicine“ veröffentlicht worden ist. Darin heißt es, dass das Ansteckungsrisiko draußen sehr gering ist. „Dieser Ausschluss darf aufgrund von Fehleinschätzungen einfach nicht noch mal passieren“, sagt Proffen.
Im Schulsport waren und sind nach der Pandemie noch immer Defizite vorhanden, beobachtet Stefan Köhler, Leiter des Sportberaterteams im Staatlichen Schulamt. Einige Kinder seien zum Ende der Maßnahmen wieder voll in ihren Sport eingestiegen, würden sich auch im Schulsport gut beteiligen und sich viel mit Spielkameraden und der Familie bewegen. Bei ihnen sei das Defizit recht schnell wieder aufgeholt worden. Bei den Kindern hingegen, die sich während der Pandemiezeit zurückgezogen und einen Schwerpunkt in digitale Spiele gesetzt haben, würde jetzt aber der Umkehrpunkt fehlen. Gerade wenn die Eltern ihre Kinder wenig motivieren würden, blieben sie in ihrem Schneckenhaus zurückgezogen. „Diese Entwicklung führt zum Problem. Es geht nicht nur um die Fitness. Bewegung ist gerade im Kindes- und Jugendalter sehr wichtig für das psychische Wohlbefinden.“
Sport im Freien hätte eigentlich als Erstes wieder öffnen müssen
Dass manche Kinder acht Stunden vor digitalen Spielen sitzen, bezeichnet der Leiter des Sportberaterteams als Dilemma, das seine Nachwirkungen in Form von Rückenproblemen und Bandscheibenvorfällen im Alter haben werde. „Wir müssen von der Sitzschule wegkommen. Man kann durchaus bewegten Unterricht machen, auch in Fächern wie Mathematik und Deutsch mit Laufdiktaten. Das sind Kleinigkeiten, wie mal kurz aufstehen oder gymnastische Übungen machen - aber die machen einen riesen Unterschied.“
Mit Aktionen wie Sportfesten, Kanufahrten und der „bewegten Grundschule“ würden die Schulen versuchen, dem Bewegungsmangel entgegenzusteuern. Köhler weiß aber auch, dass das nicht ausreicht: „Jeden Tag eine Stunde Sport an jeder Schule wäre sinnvoll. Aber da brauchen wir uns nichts vormachen. Wir haben nicht mal die Lehrer, um den regulären Unterricht abzudecken.“
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Bewegungsmangel bei Kindern bedenkliche Entwicklung