Mannheim. Das Grauen begann mit einem Schrei. Und dann ging alles ganz schnell. Konrad Schneider kann sich gut an den 31. Mai 2024 erinnern: Er war als Ordner am Stand der rechtspopulistischen „Bürgerbewegung Pax Europa“ (BPE) eingeteilt, schon zum 13. Mal. Und hatte sich auf eine Veranstaltung eingestellt, die wie die anderen zwölf ablaufen sollte: zuerst die „Hymne“ der BPE, dann der Auftritt des bekannten Islamkritikers Michael Stürzenberger. Und danach Diskussionen am Stand, die sich bis in den Abend hineinziehen. „Aufklären“, nennt Schneider das. Doch dazu kam es am 31. Mai 2024 auf dem Mannheimer Marktplatz nicht.
Konrad Schneider ist das erste Opfer, das vor dem Staatsschutzsenat am Oberlandesgericht (OLG) in Stuttgart über das Messerattentat auf dem Mannheimer Marktplatz spricht.
BPE-Mitglied spricht über bleibende Einschränkungen
Dort soll der heute 26-jährige Afghane Sulaiman A. am 31. Mai 2024 aus islamistischen Motiven auf einer Kundgebung der „Bürgerbewegung Pax Europa“ den bekannten Islamkritiker Michael Stürzenberger und weitere Menschen mit einem Messer angegriffen und teilweise schwer verletzt haben – darunter auch Konrad Schneider. Der Polizist Rouven Laur, der in das Tatgeschehen eingriff, wurde so schwer verletzt, dass er wenig später starb.
Am zweiten und am dritten Prozesstag sprechen Schneider und ein weiteres BPE-Mitglied über den Tag, der sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hat.
Zunächst also der Schrei. Konrad Schneider und sein Vereinskollege Maximilian K. (Name von der Redaktion geändert) liefen los, in Richtung von Michael Stürzenberger, der offenbar angegriffen worden war. Und dann habe er auch schon einen Schlag gespürt. Einen Faustschlag, der ihn im Bauch traf, sagt Schneider vor Gericht. Und dann noch einen, im Bereich des Unterschenkels. Danach habe er gesehen, dass er blutete. Er beobachtete, wie der Attentäter ein Messer aus seinem Bein zog. Und er realisierte: Der Schlag gegen den Bauch war kein Schlag, sondern ein Stich.
Konrad Schneider macht eine Pause, schließt die Augen, atmet durch. „Ich dachte, ich sterbe jetzt“, sagt er am Nachmittag des zweiten Prozesstages. Zwei Polizisten hätten ihn gestützt, getragen, aus der Gefahrenzone gebracht und Erste Hilfe geleistet. In einer Klinik wurde er operiert. Er erlitt eine Stichverletzung im linken Unterbauch, eine lebensgefährliche Verletzung. Und eine Fraktur des Wadenbeins. Während die schwerere Bauchverletzung gut abheilte, hat Schneider bis heute Probleme beim Gehen. Dinge, die er früher gern tat, kann er heute nicht mehr machen. Klettern oder wandern zum Beispiel. Und er habe sich psychotherapeutische Hilfe suchen müssen. Doch er lebe auch bewusster, er sei einfach dankbar, am Leben zu sein.
Konfrontation mit volksverhetzenden Aussagen Stürzenbergers
Seit dem 31. Mai 2024 sei er nicht mehr als Ordner oder Aufbauhelfer bei der BPE eingeteilt gewesen, sagt er. Doch er sei weiterhin Mitglied und teile die Überzeugungen der islamkritischen Bewegung. Immer wieder spricht er vom „politischen Islam“ und der Scharia, gegen die er und seine Mitstreiter losziehen, während der Vorsitzende des Senats, Herbert Anderer, ihn mit volksverhetzenden Aussagen Stürzenbergers – Anderer zitiert aus gerichtlichen Urteilen dazu – konfrontiert. Anderer fragt, hinterfragt und bohrt immer weiter. Was denn mit dem politischen Islam überhaupt gemeint sei? Ob es denn auch einen politischen Katholizismus gebe? Ob es nicht das Wesen von Religion sei, Regeln und Normen zu definieren?
Doch die Antworten von Konrad Schneider bleiben vage, immer wieder kommt er auf die Scharia zu sprechen. „My Life. My Rules“ steht auf seinem rotem Kapuzenpullover.
Schlagabtausch über Werte und Normen der Bürgerbewegung „Pax Europa“
Am dritten Prozesstag, am Dienstag, prasseln Anderers Fragen auch auf Maximilian K. ein. K. und Anderer liefern sich 45 Minuten lang einen Schlagabtausch über Werte und Normen der rechtspopulistischen BPE. Anderer fragt, warum ausgerechnet Mannheim Austragungsort der Kundgebung gewesen sei? Und warum der Marktplatz? Und in seinen Fragen schwingt mit, dass in der Stadt fast jeder zweite Bewohner Migrant ist. Und, dass das Marktviertel den Beinamen „Little Istanbul“ trägt.
Da er nicht für die Organisation verantwortlich gewesen sei, könne er das nicht genau sagen, sagt K., generell suche die BPE sich Großstädte für ihre Kundgebungen aus, weil man dort mehr Menschen erreichen könne. So wie Mannheim, an diesem 31. Mai 2024, an dem ein Messer „mit extrem starker Wucht“ in K.s Oberschenkel fuhr, ihn durchstach.
Noch bevor die Hymne erklang, die Veranstaltung losgegangen war, hörte K. „Laute“ und eilte mit Konrad Schneider Michael Stürzenberger zu Hilfe, der am Boden lag. Nach dem Stich in sein Bein taumelte er zurück, sagt er am Dienstag vor Gericht. Das nächste, an das er sich erinnern könne, sei der Schuss des Polizisten gewesen, der den Attentäter stoppte. Später an diesem Tag sei er operiert worden, heute könne er aber wieder laufen wie früher.
Und dann wird es ganz leise an diesem Dienstag im Sitzungssaal 1 in Stuttgart-Stammheim. Der Vorsitzende Richter lässt ein Video abspielen, das in den sozialen Medien zigfach angesehen und geteilt wurde: den Live-Stream der BPE vom 31. Mai 2024, auf der die Tat, die Minuten davor und danach zu sehen sind.
Da sind Menschen am Stand der BPE, die lachen. Michael Stürzenberger räumt Transparente aus einem Wagen, Eltern flanieren mit Kindern über den Marktplatz. Man sieht den Polizisten Rouven Laur, der den Aufbau beobachtet. Und dann geht alles ganz schnell. Ein Tumult, Stürzenberger liegt auf dem Boden, tritt, blutet. Dann kommen Schneider und Maximilian K. ins Bild. Messerhiebe, noch mehr Blut. Jemand schreit, der Angreifer möge bitte das Messer wegpacken. Der Angreifer liegt am Boden, zwei Männer halten ihn fest, einer trägt einen medizinischen Mund-Nasen-Schutz. Der Angreifer macht sich los, der Polizist Rouven Laur kniet auf einem anderen Mann und der Angreifer sticht hinterrücks auf ihn ein.
Eine Wachtmeisterin wendet den Blick ab. Jemand im Gerichtssaal raunt. Und Sulaiman A., der Angeklagte, hält sich die Hand mit gekrümmten Fingern vors Gesicht.
Dann ein Schuss, die Kollegen von Rouven Laur schreien, brüllen, er möge sich setzen. Sekunden später liegt er im linken Bildrand. Eine Kollegin, an der Blut haftet, läuft durchs Bild. Eine Frau von der BPE erscheint im Video. „Hast du mich drauf?“, fragt sie und weist dann den Kameramann an, weiter zu filmen und zu übertragen.
Herbert Anderer macht eine Pause. Danach lässt er das Video noch einmal abspielen, auf zwei Großleinwänden im Saal läuft die Tat erneut, diesmal verlangsamt ab. Wieder ist der Angriff auf Rouven Laur zu sehen, in Zeitlupe. Diesmal wendet Sulaiman A. den Blick ab.
Am 25. März will er sich zum ersten Mal zur Tat äußern.
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