Mannheim. Als er 14 Jahre alt war, kam Sulaiman A. nach Deutschland. Ohne seine Eltern und Schwestern, mit einem seiner Brüder. Zwei Jahre lang war er unterwegs, seine Reise begann in Herat in Afghanistan, wo er aufgewachsen war, Fußball spielte und Bomben hochgehen hörte. Sie führte ihn über den Iran, die Türkei, Griechenland und Italien nach Deutschland. Im Bus, im Schlauch- und im Motorboot, zu Fuß. An der türkisch-iranischen Grenzregion bebte die Erde, während er dort war. Später harrte er ein Jahr lang in einem Keller in Istanbul aus, aus Angst davor, abgeschoben zu werden.
Und einige Monate danach, auf dem Schiff nach Italien, fiel der Motor aus. Sieben Tage lang trieben er und die anderen Menschen auf dem offenen Meer. Er dachte, er würde sterben.
Dann, endlich Deutschland. Das gelobte Land, an der südhessischen Bergstraße lernte er Deutsch, machte seinen Realschulabschluss. Einmal in der Woche telefonierte er mit seinen Eltern, manchmal auch seltener. Er wurde stellvertretender Schulsprecher und trainierte hart im Taekwondo, holte den Sieg beim Rheinland-Pfalz-Pokal und einen der vorderen Plätze bei den Hessenmeisterschaften. Und er heiratete. Er wurde Vater und erhielt eine Aufenthaltserlaubnis bis 2026.
In gutem Deutsch zeichnet Sulaiman A., der mutmaßliche Messerattentäter vom Mannheimer Marktplatz, am Donnerstag im Sitzungssaal 1 am Oberlandesgericht (OLG) in Stuttgart sein bisheriges Leben nach. Er trägt eine Stoffhose und ein weißes Hemd, bedankt sich bei einer Wachtmeisterin, die sein Mikro anstellt.
Wann kippte etwas in Sulaiman A.s Leben?
Freigiebig beantwortet er die Fragen des Vorsitzenden Richters, Herbert Anderer, der ein Zeugnis und einen Lebenslauf des Angeklagten an die Wand projizieren lässt, Auszüge aus A.s Leben. Und unwillkürlich drängen sich Fragen auf: Wie konnte das passieren? Wann kippte etwas in Sulaiman A.s Leben? Wie landete er auf der Anklagebank in einem Hochsicherheitsverfahren vor dem Staatsschutzsenat am OLG, das um das Messerattentat auf den Mannheimer Marktplatz kreist?
Die Bundesanwaltschaft wirft dem 26-jährigen Afghanen Mord, versuchten Mord in fünf Fällen und gefährliche Körperverletzung aus islamistischen Motiven vor. Am 31. Mai 2024 soll er auf dem Marktplatz in Mannheim auf einer Kundgebung der rechtspopulistischen „Bürgerbewegung Pax Europa“ den bekannten Islamkritiker Michael Stürzenberger und weitere Menschen mit einem Messer angegriffen und teilweise schwer verletzt haben. Der Polizist Rouven Laur, der in das Tatgeschehen eingriff, wurde dabei so schwer verletzt, dass er zwei Tage später starb.
Antworten auf Fragen nach dem „Warum“ liefert Sulaiman A. am Donnerstag nicht. Auch Fragen danach, wie religiös er sei, wie er seine Tage in den Monaten vor der Tat verbrachte und wie es ihm danach gefühlsmäßig ging, bleiben unbeantwortet. Wie er sich möglicherweise radikalisierte, bleibt am Donnerstag ebenfalls unbeschrieben.
Nach Informationen dieser Redaktion bemerkten die Menschen im Umfeld des mutmaßlichen Attentäters in den Monaten vor dem Messerattentat Veränderungen an ihm. Er ließ sein Haar wachsen, bis es schulterlang war, und ließ sich einen Bart stehen. Ab und an soll er auch einen schwarzen Lidstrich aufgetragen haben – in Anlehnung an den Propheten Mohammed.
Sulaiman A. will sich zu den Tatvorwürfen äußern
Nachbarn in dem Heppenheimer Hochhaus, in dem A. lebte, fiel auf, dass er nicht mehr mit Frauen den Aufzug teilen wollte. Und frühere Bekannte, aber auch Familienmitglieder, berichten nach Informationen dieser Redaktion, dass er sich von denen zurückzog, die seine neueren Vorstellungen von der Welt nicht teilten. Die nicht mit ihm in religiösen Fragen übereinstimmten.
Nach Informationen dieser Redaktion begann er, sich dem salafistischen Prediger Pierre Vogel zuzuwenden, und tauschte sich im Netz mit religiösen „Gelehrten“ aus. Auch soll er sich Videos angesehen haben, die um religiöse Fragen und um die Taliban kreisten. Die Inhalte, die er in sich aufsog, sollen immer radikaler geworden sein. Ein Jahr vor der Tat soll er Gewalt im Namen des Islams nicht mehr nur gutgeheißen, sondern darüber nachgedacht haben, selbst aktiv zu werden. Später soll er intensiv Propaganda-Inhalte des IS studiert haben. Seinen radikalen Gesprächspartnern soll er im Chat immer konkretere Fragen gestellt haben – etwa zu den Aufgaben zu Muslimen in Europa und den USA. Und danach, ob es legitim sei, auch Kinder, Frauen und ältere Menschen zu töten.
Die Verteidiger des Mannes kündigen am Donnerstag an, er werde sich im Laufe des Verfahrens zu den Vorwürfen und seinen religiösen Überzeugungen äußern. Und er werde auch mit dem Psychiatrischen Sachverständigen Johannes Fuß, dem Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie und Sexualforschung an der Universität Duisburg-Essen, sprechen. Sulaiman A. habe signalisiert, dass er sich explorieren lassen will, wie es unter Fachleuten heißt.
Zunächst sollen aber einige der Menschen gehört werden, die am 31. Mai 2024 verletzt worden sind. Und später auch die Angehörigen von Rouven Laur.
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