Mutmachgeschichte

Paula zieht aus

Die erste eigene Wohnung markiert den Sprung in ein eigenes Leben, steht für Freiheit und Unabhängigkeit. Im Februar ist die 25-jährige Paula Röckl ausgezogen – trotz Handicaps. Eine Mutmachgeschichte

Von 
Agnes Polewka
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"Das war ein guter Schritt": Paula zieht aus - in ein eigenes Leben. © Christoph Bluethner

Mannheim. Die letzte Nacht in ihrem Kinderzimmer endet um 3 Uhr früh. Paula Röckl kann nicht mehr schlafen. Ihr ist übel. Heute, an diesem Samstag im Februar wird sie von zu Hause ausziehen. Wie so viele andere junge Menschen. Aber Paula ist nicht wie viele andere.

Paula zieht aus, um ein selbstständiges Leben zu führen. © Christoph Blüthner

Paula entwickelt sich langsamer als Gleichaltrige

An Silvester 2020, das alte Jahr ging gerade in das neue über, setzte sich Paula zu ihrer Mutter an den Esszimmertisch ihres gemeinsamen Zuhauses in Käfertal. Ihre Mutter schob den Laptop zu ihr herüber. Claudia Bürkle zeigte ihrer Tochter Bilder von einem Wohnprojekt auf Spinelli. Paula Röckl hatte sich bis dahin noch nie Gedanken darüber gemacht, auszuziehen. Paula ist ein Mensch, der eher im Moment lebt. Ein bisschen so, wie Kinder das tun.

Schon kurz nach ihrer Geburt entwickelte sie sich langsamer als Gleichaltrige. Als Baby drehte sie sich nicht, robbte nicht, lag oft einfach nur da. Paula fing an zu stehen, als andere Kinder in ihrem Alter schon liefen. Lange Zeit waren da keine Wörter, und noch heute klingt es manchmal gepresst, wenn Paula spricht.

Es gibt kein Label für Paula

Wie gut sie Dinge durchdringt, hängt von Paulas Tagesform ab. Ein Lehrer hat einmal zu ihrer Mutter gesagt: „Es gibt Tage, da denke ich, Paula macht das Abitur. An anderen kann sie nicht bis Drei zählen.“

Paulas altes Kinderzimmer im Haus ihrer Mutter. © Christoph Blüthner

Es gibt kein Label für Paula. Wer sie sieht, würde nicht von einer Behinderung sprechen. Vielleicht noch nicht einmal von einem Handicap. Und Paula ist das ohnehin egal. Sie ist eben die Paula Röckl.

Und so war es für Paula auch keine große Sache, als sie und ihre Mama einen Behindertenausweis für sie beantragten. „Ich hatte dann beides, ein Maxx-Ticket und den Behindertenausweis.“

Da war sie schon ein Teenager und ging auf die Comenius-Schule in Schwetzingen, eine Schule mit Außenklassen für entwicklungsverzögerte Schüler. Kleine Klassen mit fünf, sechs Schülern, die an die Regelschulklassen angedockt sind.

Die Umzugshelfer sind da: 24 Jahre in Kisten werden aus dem Haus getragen

Sieben Stunden, nachdem die letzte Nacht in ihrem Kinderzimmer für Paula zu Ende gegangen ist, klingelt es in Käfertal an der Tür. Die Umzugshelfer sind da. Um 25 Jahre in Kisten und Koffern aus dem Haus zu tragen. Paula folgt ihrem Vater und ihrem Bruder die Treppe hinauf, in ihr Kinderzimmer. Die Männer beginnen damit, die Schlafcouch auseinanderzubauen, die künftig in Paulas Wohnzimmer stehen soll.

Paula am Tag des Umzugs vor der Bilderwand, die ihr bisheriges Leben dokumentiert. © Christoph Blüthner

Dann ist Paula wieder unten, knüllt im Flur ein Kissen zusammen. „Von meinen alten Schulfreunden würden das nicht alle schaffen, auszuziehen“, sagt sie. Paula versucht, das Kissen in einen Beutel zu quetschen. Vor einer Wand aus Bildern. Paula und ihr Bruder Laurin als Kinder auf dem flauschigen Teppich eines Fotografen. Babybilder. Paula mit Sonnenbrille am Gardasee.

Auf der Suche nach einer Diagnose

Die Fotos – eine kleine Chronik ihres Lebens, in dem Paula zunächst einen „normalen“ Kindergarten besuchte. Danach kam sie auf eine Mannheimer Förderschule und schließlich nach Schwetzingen. Dazwischen gab es Untersuchungen. Viele Untersuchungen. Um eine Diagnose zu bekommen, vielleicht endlich auch eine Therapieempfehlung. Aber alle liefen sie ins Leere. Mediziner attestierten Paula, kerngesund zu sein.

Bis heute kann Paulas Familie nur darüber spekulieren, warum sich Paula anders entwickelte als ihr Bruder. „Vielleicht ein Mini-Gendefekt, der nie erforscht wurde. Vielleicht gab es etwas in der Anlage des Gehirns. Wir wissen es nicht“, sagt Paulas Mutter, Claudia Bürkle. Doch das ist ihr inzwischen auch nicht mehr wichtig. Und Paula war es das sowieso nie.

Über diesen Text

Wir möchten die Mutmachgeschichte von Paula Röckl so erzählen, dass sie von möglichst vielen Menschen verstanden wird. Deshalb veröffentlichen wir auch eine sehr vereinfachte Version der Reportage "Paula zieht aus" - diese vereinfachte Version findet sich hier

  • Leichte Sprache ist eine sehr vereinfachte Form der Alltagssprache. Sie richtet sich an Menschen mit Lernschwierigkeiten, Demenzerkrankte oder Nicht-Muttersprachler und zeichnet sich etwa durch kurze Sätze aus, folgt festen Regeln.
  • Einfache Sprache hat ein ähnliches Ziel, aber keine festen Regeln, vereinfacht meist schwächer.

Paula gibt das Knüllen auf, klemmt sich das Kissen unter den Arm und sagt: „Wir fahren schon einmal rüber.“ Wenige hundert Meter entfernt in ihrer eigenen Wohnung schiebt Paula eine Fußmatte mit dem Emblem der Mannheimer Adler vor ihre Wohnungstür mit der Nummer 11. „Man muss ja wissen, wer hier wohnt“, sagt sie und lacht. Wenn Paula lacht, wippen ihre braunen Locken vor und zurück. Sie führt ihre Freundin Michi und deren Mutter durch die neue Wohnung im Innern des Holzhauses. Alles riecht neu, und das ist es auch. „Hier ist wirklich jeder Zentimeter ausgenutzt“, sagt jemand. Paula nickt und zeigt den beiden die Holzdecke im Bad ihrer 62 Quadratmeter großen Wohnung.

Paula mag, wie Holz riecht und wie es sich anfühlt

Paula und ihr erstes handgefertigtes Regal. Schon immer faszinierte Paula die Arbeit mit Holz. © Christoph Blüthner

Holz, das ist ein Material, das Paula gefällt. Schon früh wollte sie gern in einer Schreinerei arbeiten. „Als Kind war ich an Fasching immer als Bob, der Baumeister verkleidet“, sagt sie. Sie mag es, wie das Holz riecht und wie es sich anfühlt. Im Flur, zwischen den ersten Umzugskartons steht eins ihrer wertvollsten Stücke: ein kleines Regal. Helles Holz, eine simple Konstruktion und doch sehr stabil. Es ist das erste Möbelstück, das Paula zusammengebaut hat. Im Praktikum, bevor sie begann, als Hilfsschreinerin zu arbeiten.

„Ich mag die Bauweise unseres Hauses“, sagt Paula, die bei „Oikos“ auf Spinelli eingezogen ist. Die Naturmaterialien, die Holzfassade, den offenen Garten. Bodentiefe Fenster, viel Licht. Alles nach Ökostandards isoliert. „Oikos“ ist ein gemeinschaftliches, genossenschaftliches Wohnprojekt. 21 Parteien wohnen hier. Familien, Alleinstehende, Junge und Alte. Hier sollen Menschen zusammen kommen, die nicht nur nebeneinander, sondern auch miteinander leben. Die Hausgemeinschaft teilt sich einen Gemeinschaftsraum, den Garten, einen Fitnessraum und eine Sauna.

Wohngenossenschaft "Oikos" auf Spinelli wird das neue Zuhause

Zunächst hatte sich Paula für das andere Projekt interessiert. Am Silvesterabend 2020 und in den Monaten danach. Doch daraus wurde nichts, und irgendwann stießen ihre Eltern auf „Oikos“, nur wenige hundert Meter von ihrem eigenen Haus entfernt.

Paula und ihre Freundin Michi im „Oikos“-Keller. © Christoph Blüthner

„Oikos“ – der Begriff kommt aus dem Altgriechischen, wo er die Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft bezeichnete, in der die Großfamilie lebte und die ihr Lebensmittelpunkt war. Und in diesem Sinne versteht sich auch das Wohngenossenschaftsprojekt.

Am 10. Februar 2021 schrieb Paula dem Vorstand der Wohngenossenschaft eine Mail und stellte sich vor. Denn wer in das Haus einzieht, bestimmen die anderen Bewohner. „In Zukunft möchte ich von zuhause ausziehen, damit ich selbstständig werde“, schrieb Paula. „In meiner Freizeit gehe ich klettern, reiten, tanzen, mache Malen nach Zahlen, Puzzle (500 Teile), treffe mich mit Freunden und spiele Badminton.“

Paula und ihr Bruder Laurin in der neuen Wohnung. © Christoph Blüthner

Es folgte ein Kennenlernen in der Pandemie: Sie unterhielten sich über Zoom und gingen spazieren. Und später verbrachten sie dann mehr Zeit miteinander. Paula und ihre potenziellen künftigen Mitbewohner fuhren gemeinsam ins Elmsteiner Tal, in den hintersten Zipfel des Pfälzer Walds, verbrachten Gemeinschaftswochenenden, um zu schauen, ob es mit ihnen allen so funktionieren könnte.

Paula macht ernst und beschließt auszuziehen 

„Das war am Anfang schon auch komisch“, sagt Paula Monate später. Und schwer. Sie und ihre Mama stehen sich so nah, lebten so dicht zusammen. Und so gerne. Aber irgendwie war es auch schön, sagt Paula. „Etwas Neues.“

Und dann machte Paula ernst – sie beschloss auszuziehen. Doch zunächst musste das Finanzielle geregelt werden. Wer bei „Oikos“ einzieht, zahlt eine bestimmte Summe in das Genossenschaftsprojekt ein: mindestens 30 Prozent dessen, was die eigene Wohnung kosten würde. Monatlich wird dann eine Miete fällig, die sich prozentual an der Quadratmeterzahl bemisst und daran, wie hoch die Summe ist, die man vor dem Einzug eingezahlt hat.

Am Tag nach der letzten Nacht steht Paula in ihrer neuen Wohnung. Dicht gedrängt. Inzwischen sind noch mehr Helferinnen und Helfer da. Paula weiß genau, wann jeder von ihnen Geburtstag hat, das ist ihr wichtig. Es gibt Kuchen. Paula steht mit ihrem Bruder im Türrahmen, jemand macht ein Foto, dokumentiert diesen wichtigen Tag, an dem Paula ihre Komfortzone verlässt.

Claudia Bürkle hat die Auszugspläne ihrer Tochter von Beginn an unterstützt. © Christoph Blüthner

In der Küche sieht Paula ihre Mutter Claudia stehen. Die ist stolz. Weil ihre Tochter so mutig ist. Sie freut sich für sie. Und für sich selbst, auf die Freiheit, die vor ihr liegt. Die Frauen sprechen offen über ihre Gefühle miteinander. Aber Claudia Bürkle tut es auch weh, hier zu stehen, an diesem Tag nach der letzten Nacht im Kinderzimmer. Manchmal, da fühlt sie sich jetzt schon ausgeschlossen, wenn Paula Dinge mit ihren neuen Mitbewohnern plant, sagt sie. Und doch ist alles gut so, wie es ist. Weil es das Beste für ihr Mädchen ist.

Und die hat schon so viele Pläne. Immer mittwochs wollen sich die neuen Nachbarn zusammensetzen, im Sommer wollen sie gemeinsam grillen, vielleicht auch eine Fahrradtour machen, schwimmen gehen.

Am Anfang ist da Einsamkeit

Paula stellt sich neben ihren Vater, der die Couch wieder zusammenbaut. Der Schlafzimmerschrank und die Küche stehen schon.

In dieser ersten Nacht schläft Paula gut in ihrer neuen Wohnung. Ihr Papa bleibt über Nacht.

Eine Woche später schläft sie wieder in ihrem alten Zuhause, bei ihrer Mutter. Weil sie sich so allein gefühlt hat. Und ihre Mama auch, glaubt sie. Sie bleibt von Montag bis Donnerstag.

Die Briefkästen des Wohnprojekts „Oikos“, das nun Paulas neues Zuhause ist.

© Christoph Blüthner

Ein halbes Jahr nach der letzten Nacht in ihrem Kinderzimmer öffnet Paula die Tür ihres neuen Zuhauses, das für sie gar nicht mehr so neu ist. Die Sonne scheint, vor den Wohnungen stehen Blumentöpfe, eine Bank. Paula breitet die Arme aus. „Komm rein“, sagt sie und beginnt zu erzählen. Von den ersten Nächten, die schwer waren. Dann hält sie inne. „Moment, ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal bei der Mama geschlafen habe“, sagt sie.

„Das war ein guter Schritt“, sagt Paula

In den Regalen stehen Bilder. Paula mit ihren Freundinnen. „Ladys Night“ steht unter einem Foto.

„Wie läuft’s?“ – „Gut läuft es“, sagt Paula und lächelt.

Am Wochenende hätten sie und die anderen ein Gemeinschaftswochenende miteinander verbracht. „Es gab ein Rätsel mit Kinderfotos, das war so witzig“, sagt Paula. Schön sei das gewesen. Sie verstehe sich gut mit den anderen. Unter ihr wohne eine Familie mit zwei Kindern, die seien später eingezogen, da eine andere abgesprungen sei. Weil sie den Neuen dabei helfen wollte, anzukommen, lud sie sie zum Essen ein, kochte Nudeln mit Tomatensoße.

Es ist ein gutes Leben, das sie führt. Natürlich vermisst sie ihre Mama noch. Abends mit ihr zusammen zu sein, fehlt ihr manchmal. Aber sie sehen sich oft. Montags besuchen sie ihre Oma, mittwochs gehen sie zusammen reiten.

„Das war ein guter Schritt“, sagt Paula. Und weiß, dass sie gut schlafen wird, heute Nacht.

Redaktion

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