Mannheim. Herr Specht, Herr Stiegel, auf welche extremen Lagen ist der Mannheimer Katastrophenschutz vorbereitet?
Christian Specht: Mannheim als zweitgrößte Stadt Baden-Württembergs mit seiner Lage an Rhein und Neckar, sehr vielen Industrie- und Störfallbetrieben sowie dem bundesweit bedeutenden Hafen und dem Rangierbahnhof muss sich auf multiple Katastrophenlagen vorbereiten. Dazu zählen zum Beispiel Stromausfall, Unwetter, Gefahrgutaustritte, Großbrände, Unfälle und Hochwasser.
Abhängig vom jeweiligen Ereignis werden unterschiedliche Mittel der Bevölkerungswarnung eingesetzt. Dazu zählt unter anderem neben den Warn-Apps Nina und Katwarn auch das erst vor wenigen Jahren neu aufgebaute Sirenennetz, das zum Beispiel auch bei einem flächendeckenden Stromausfall funktioniert.
Bedeutet die Lage an gleich zwei Flüssen doppelte Gefahr?
Specht: Die Lage der Stadt an Rhein und Neckar erfordert eine besondere Hochwasserstrategie. Im Unterschied zu einer Tallage, wie bei der Katastrophe im Ahrtal, entwickelt sich eine gefährliche Hochwasserlage für Mannheim über Tage hinweg insbesondere durch Wetterereignisse in den Alpen oder Starkregenereignisse bei den Zuflüssen von Rhein und Neckar.
Mannheim hat deshalb vor 25 Jahren begonnen, mit Rheinanlieger-Bundesländern das integrierte Rheinprogramm zu entwickeln. Ziel dieses Programms ist es beispielsweise, für Mannheim die möglichen Hochwasserwellen von Rhein und Neckar in ihren Abläufen so zu verzögern, dass sie nicht zeitgleich in Mannheim und Ludwigshafen ankommen.
Es gibt hier Gefahren und Risiken, die es in Städten vergleichbarer Größe nicht gibt
Hierzu wurden – unterstützt von den Regionalverbänden – in den betroffenen Kommunen neue Wasserrückhaltebecken und Polder entlang des ganzen Rheins, aber auch an den Zuflüssen des Neckars im Odenwald, gebaut. Zudem wurde ein Frühwarnsystem aufgebaut, das über schnell anwachsende Pegel informiert.
Aber für Chemieunfälle gibt es kein Frühwarnsystem?
Specht: Mannheim hat mit seinen 26 Betrieben, die der Störfallverordnung unterliegen, und mit dem weltgrößten Chemiekonzern BASF als Nachbarn eine besondere Situation. Auch Bahnunfälle, wie der Zusammenstoß eines Güterzuges mit einem Eurocity im Mannheimer Hauptbahnhof im August 2014, sind bei einem so großen Rangierbahnhof wie in Mannheim nicht auszuschließen.
Täglich werden Güterzüge mit Gefahrstoffen über den zweitgrößten Rangierbahnhof Deutschlands in Mannheim transportiert und bewegt. Unsere Feuerwehr rückt zwei bis vier Mal im Monat zu kleineren Gefahrstoffeinsätzen am Rangierbahnhof aus.
Die meisten dieser Einsätze sind kleinere Leckagen, die keine Auswirkungen für Mensch und Umwelt nach sich ziehen. Die Hauptgefahr geht also nicht nur vom Container-Terminal im Hafen aus, sondern auch vom Rangierbahnhof.
Sirenenwarnsystem, zuhause bleiben und Fenster sowie Türen zu schließen, reicht völlig aus
Also lauert das Risiko auch auf den Schienen?
Specht: In der Tat wird viel Gefahrgut auf der Schiene transportiert. Die Schiene ist wesentlich ungefährlicher als der Straßentransport. Die Forderung Mannheims für einen Güterzugtunnel hat nicht nur Lärmschutz- und ökologische Gründe, sondern kann auch Gefahren bei Kollisionen oder Unfällen von Gefahrgut auf der Schiene in Mannheim deutlich reduzieren.
Dies wird deutlich, wenn man ein Ereignis vor einigen Jahren betrachtet, bei dem Gefahrgut aus einem Güterzug ausgetreten ist und bei Fahrgästen, die am S-Bahn-Halt Hochstätt standen, zur Gesundheitsbeeinträchtigung geführt hat. Als Zentrum von wirtschaftlicher Aktivität mit Hafen, Rangierbahnhof und Autobahnnetz gibt es hier Gefahren und Risiken, die es in Städten vergleichbarer Größe nicht gibt.
Deshalb ist es für uns essentiell, dass die gesamte Gefahrenabwehr von Feuerwehr, Rettungsdienst und Bevölkerungsschutz für das Stadtgebiet aus unserer Integrierten Leitstelle in der Hauptfeuerwache gesteuert wird. So können wir gezielt und schnell auf Gefahrensituationen reagieren und die Bevölkerung warnen.
Bedeutet das, wir brauchen Schutzräume? Immerhin liegt der Rangierbahnhof mitten in der Stadt.
Specht: Die im Stadtgebiet befindlichen Bunker sind historisch für Bedrohungen der Bevölkerung durch bewaffnete Auseinandersetzungen errichtet worden. Die Abwehr solcher Gefahren für die Bevölkerung fällt als Zivilschutz in die Verantwortlichkeit des Bundes. Für heutige Risiken sind die alten Bunker nicht tauglich.
Sie wurden vom Bund nicht gewartet, die Filteranlagen und die Wasserversorgung sind nicht intakt. Viele Bunker sind auch nicht für eine chemische oder atomare Bedrohung ausgelegt. Ob es bald eine Wende hin zum Neubau von Bunkern gibt, bezweifle ich.
Terminals unterliegen besonderen Sicherheitsvorkehrungen
Aber es muss ja kein Bunker sein, sondern neue Schutzräume. Brauchen wir das hier in der Region?
Jens Stiegel: Für die möglichen Szenarien, die in Mannheim eintreten können, braucht es keine Schutzräume. Die Instrumente, die hier zur Verfügung stehen, also auch das Sirenenwarnsystem, zuhause bleiben und Fenster sowie Türen zu schließen, reichen völlig aus.
Gibt es Notfallpläne für Mannheim, falls es eines Tages zu einem Unfall etwa beim Chemiekonzern BASF kommt, der Menschen und Tiere direkt gefährdet, da giftige Stoffe freigesetzt werden?
Specht: Für so ein Extremszenario, bei dem die ganze BASF „explodiert“, gibt es keinen konkreten Plan. Jeder Einsatz ist anders und nicht vorhersehbar. Man muss immer individuell auf Gegebenheiten und Entwicklungen reagieren und dementsprechend die Einsatztaktik anpassen.
Stiegel: Man muss schauen, was realistisch ist. Wir sind meist mit einer punktuellen Lage konfrontiert.
Specht: Die Stadt Mannheim ist aber mit der BASF und der Stadt Ludwigshafen in einem ständigen Austausch über alle Gefahrenlagen. Gerade beim aktuellen Beispiel im Mannheimer Hafen hat sich die schon vielfach erprobte Zusammenarbeit zwischen den Feuerwehren der Städte Mannheim und Ludwigshafen und der BASF-Werkfeuerwehr zusammen mit weiteren Partnern aus der Metropolregion Rhein-Neckar bestens bewährt.
So unrealistisch ist ein solches Szenario nicht, wenn man an das Unglück im Landeshafen Nord im Jahr 2016 denkt.
Stiegel: Auch damals hat es sich um ein punktuelles Unglück gehandelt. Man geht jedes Mal gleich vor, überprüft erst einmal: Was und wie viel wird da gerade freigesetzt? Im Rangierbahnhof gab es erst diesen Mittwoch einen „Gefahrgutunfall“. Aber das war nur ein Leck an einem Kesselwagen, der Ethanollösung geladen hatte.
Das klingt erstmal bedrohlich, ist es aber nicht, gerade weil wir zu Beginn schon wussten, dass es zu einem Austritt von etwa zwei Tropfen pro Minute kommt. Das gilt für viele andere Chemieunternehmen in Mannheim auch. Sobald dort etwas passiert, muss man eine Lageeinschätzung vornehmen, daraus ergeben sich die erforderlichen Maßnahmen.
Specht: Auch größere Schadenslagen wie beim BASF-Unglück im Landeshafen Nord haben gezeigt, dass wir solche Einsätze gemeinsam bewältigen können.
Deshalb war auch niemand, der zwischen den beiden Städten pendelt, in unmittelbarer Gefahr
Weiß die Stadt eigentlich, was da genau in den Containern im Hafen gelagert wird?
Stiegel: Das erfährt die Feuerwehr, sobald es zu einem Problem damit kommt. Solange nichts passiert, ist das auch nicht relevant. Im Fall des Containerunfalls hatte das Logistikunternehmen Contargo direkt beim Notruf mitgeteilt, um welchen Stoff es sich handelt.
Allerdings war zu diesem Zeitpunkt nur klar: Das darin gelagerte Hydrosulfit ist ein weißes Pulver, das kritisch mit Wasser reagiert.
Specht: Man muss sich das praktisch vorstellen wie bei einem Lkw, für den bestimmte Sicherheitsvorkehrungen gelten, um Gefahrgut zu transportieren. Genau das gilt auch für ein Container-Terminal, das für bestimmte Gefahrenklassen und damit Gefahrgüter genehmigt wurde. Solche Terminals unterliegen besonderen Sicherheitsvorkehrungen wie Kameraüberwachung oder Wasserrückhaltung.
Den Behörden muss während des Betriebs nicht gemeldet werden, was sich in einem Container befindet. Genauso wie auf der Straße, wo die Behörden grundsätzlich auch nicht darüber informiert werden müssen, wann und wohin ein Gefahrguttransport stattfindet.
Wir waren über diese Meldung nicht glücklich
Herr Specht, Sie haben gesagt: „Wer die Sirene nicht gehört hat, war auch nicht in Gefahr.“ Was ist mit Pendlern? Die haben die Sirene in Ludwigshafen nicht gehört. Hätte es nicht mehr Infos gebraucht?
Specht: Das sehe ich anders. Die Art und der Umfang der Information hängen davon ab, wie stark die Bevölkerung gefährdet ist. Die Feuerwehr wusste schon bei der Anfahrt, welches Produkt sich im Container befinden soll. Die chemische Reaktion und dabei entstehende Stoffe waren zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht bekannt.
Der Einsatzleiter der Feuerwehr erkannte dann kurz nach dem Eintreffen, dass für die Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt keine Akut-Gefährdung bestand. Diese Lage kann sich natürlich abhängig von dem Fortgang des Ereignisses, der Wetterlage und insbesondere der Windrichtung immer ändern.
Stiegel: In unserem Fall war die Einschätzung, dass der Rauch aufsteigt, sich aber durch die Wetterlage an Ort und Stelle hält. Deshalb war auch niemand, der zwischen den beiden Städten pendelt, in unmittelbarer Gefahr. Um diese Einschätzung zu überprüfen, hat der Einsatzleiter den ersten Messwagen sofort auf die Kurt-Schumacher-Brücke beordert; dort wurden keine relevanten Werte gemessen.
Über die Personen
- Christian Specht ist Erster Bürgermeister und Sicherheitsdezernent der Stadt Mannheim. Er war auch bei dem Chemieunfall im Hafen im Krisen- und Verwaltungsstab beteiligt.
- Jens Stiegel ist stellvertretender Amtsleiter der Feuerwehr Mannheim. Er war auch bei dem tödlichen Unglück bei der BASF 2016 im Einsatz.
- Vor seiner Zeit als Amtsleiter war Stiegel 30 Jahre bei der Freiwilligen Feuerwehr engagiert. Die Hälfte davon als Kommandant.
Trotzdem wurde die Brücke gesperrt. Wieso?
Specht: Das war erst später. Es ging um die ersten anderthalb Stunden. Danach hatte der Wind gedreht. Im Übrigen wurde die Windrichtung dauerhaft beobachtet.
Stiegel: Der Einsatzleiter hatte bemerkt, dass es unter dem Container dampft und sich oben auf der Brücke Schaulustige sammeln. Deshalb wurde direkt ein Messfahrzeug dort hochgeschickt. Hätte das angeschlagen, hätte die Polizei sofort alles abgesperrt.
Deshalb kam der Sirenenalarm erst später?
Stiegel: Am Anfang war die Lage nicht so, dass Sirenen nötig gewesen wären. Der Alarm soll die Aufmerksamkeit der Bevölkerung erhöhen. Auch wenn die Sirene zu einem späteren Zeitpunkt kam. Natürlich werden im Verwaltungsstab auch weitere Szenarien durchgespielt.
Newsletter "Guten Morgen Mannheim!" - kostenlos registrieren
Beispielsweise die Frage, wie viele Menschen betroffen wären, wenn evakuiert werden müsste. Das wurde vorgeplant, aber nicht als Maßnahme beschlossen. Zwischendurch war die Rede davon, dass im Umkreis von 1,3 Kilometern evakuiert werden soll. Aber das kam nicht von der Feuerwehr.
Das hatte die Polizei mitgeteilt.
Specht: Wir waren über diese Meldung nicht glücklich.
Der Radius war also nicht die Einschätzung der Feuerwehr. Welchen Radius hatten Sie denn gezogen?
Stiegel: Wir hatten die Messfahrzeuge im Einsatz. Die wurden an Orten positioniert, an denen die Wolke hätte ankommen können. Doch keines dieser Fahrzeuge hat an diesem Abend etwas gemeldet. Es gab keinen Anlass, irgendeinen Stadtteil ganz oder teilweise zu räumen – auch weil die Wolke nach oben abgezogen ist.
Die Sirene hat nur eine Minute lang angeschlagen. Kann sie auch länger heulen?
Stiegel: Man kann sie auch mehrfach für eine Minute ertönen lassen. Wenn man die Sirene aber fünf Minuten am Stück laufen lässt, verwirrt man die Menschen eher, weil die Bedeutung von einem so langen Ton auch nicht in der Störfall-Broschüre steht.
Herr Specht, Sie haben schon gesagt: Die Sirene ist nicht mehr gelernt, wie wollen Sie das ändern?
Specht: Wir müssen die Kenntnisse über den Sirenenton bei der Bevölkerung verbessern. Deshalb plädiere ich für einen Warntag. Der Bund hat einen solchen Warntag vor Kurzem angekündigt. Wenn die Vorbereitungen nicht so zügig verlaufen, könnte ich mir auch vorstellen, dass wir in Mannheim einen regionalen Warntag organisieren. Andere Kreise aus der Metropolregion wären dazu eingeladen.
Aber auch in den Schulen und Kitas sollte das Thema Bevölkerungsschutz, Sirenen und Warn-Apps genauso – wie in anderen Ländern auch – vermittelt werden. Dazu gehört auch die immer wiederkehrende Information, dass man zu Hause Vorräte an Essen und Getränken für 14 Tage, eine Taschenlampe und ein batteriebetriebenes Radio vorhalten sollte.
Stiegel: Das ist auch eine Erkenntnis aus dem Chemieunfall: Einige konnten mit der Sirene nichts anfangen. Deshalb ist es wichtig, dass auch die Gesellschaft Verantwortung übernimmt. Wenn ich selbst weiß, was die Sirene bedeutet und mir klar ist, dass meine schwerhörige Nachbarin nichts gehört hat, sollte ich sie warnen. In meiner Kindheit war klar: Sirene bedeutet Fenster zu, Radio an. Heute gibt es die Informationen auch im Internet, bei uns auf mannheim.de oder in den Warn-Apps.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-mannheim-nach-chemieunfall-die-gefahr-geht-in-mannheim-nicht-nur-vom-hafen-aus-_arid,1996458.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.dehttps://www.mannheimer-morgen.de/firmen_firma,-_firmaid,20.html