Mannheim. Herr Müller, Sie haben vor zwei Wochen angekündigt, dass Sie das Erdgas-Verteilnetz in Mannheim bis 2035 stilllegen wollen. Haben Sie die Reaktionen überrascht?
Georg Müller: Eigentlich nicht, weil Veränderungen im Heizungsgeschehen im Prinzip jeden Eigentümer, jeden Mieter betreffen. Die Diskussionen darüber kann ich gut nachvollziehen.
Mir hat ein Mann geschrieben, der vergangenes Jahr in seinem Haus in Neckarhausen die Ölheizung austauschen ließ: Der Energieberater habe ihm zu einer Gas-Hybridheizung geraten, weil eine Wärmepumpe nicht reichen würde – beziehungsweise nur, wenn er rund 260 000 Euro für eine energetische Sanierung investiert. Er folgte dem Rat, nachdem ein MVV-Vertreter ihm die Belieferung mit Gas oder einem Ersatzstoff zugesagt habe, gab 27 000 Euro aus – und muss sich nun in etwa zehn Jahren um eine neue Heizung bemühen. Was sagen Sie dem Mann?
Müller: Der Ärger ist verständlich. Deshalb gehen wir auch jedem einzelnen Fall nach, der uns erreicht. Die individuelle Beratung durch den Energieberater kann ich für diesen konkreten Fall nicht kommentieren. Lassen Sie mich aber ganz grundsätzlich klarstellen: Es besteht für niemanden kurzfristig Handlungsdruck. Wir schreiben seitens MVV auch nichts vor. Wer eine funktionierende Heizung hat, kann die zunächst ohne Einschränkungen weiter betreiben. Wir weisen aber auch klar darauf hin, dass das Betreiben einer Gasheizung perspektivisch nicht zukunftsfest ist, im Gegenteil – es ist risikobehaftet.
Das wird dem Mann nicht viel helfen: Kann er sich Hoffnungen auf eine Entschädigung machen?
Müller: Ich würde davon ausgehen – und fordere das auch vom Gesetzgeber ein –, dass es bei der konkreten Umsetzung des Gas-Ausstiegs eine bundesweit einheitliche Regelung für Härtefälle geben muss.
Sie selbst würden aber auch im Rückblick alles erneut so machen?
Müller: Wir würden, wenn wir die Uhr zurückdrehen könnten, wahrscheinlich den Start der Kommunikation aktiver gestalten. Dann hätte es die eine oder andere Irritation vielleicht nicht gegeben. An unserer grundlegenden Einschätzung hat sich jedoch nichts geändert: Konventionelles Gas hat ab 2035 wegen seiner CO2-Emissionen und der ansteigenden CO2-Kosten bei der Gebäudebeheizung keine Perspektive mehr. Und da auch grüne Gase als Alternative nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stehen werden, verliert dann auch das Verteilnetz seine Funktion. Darum wollen wir es stilllegen.
Warum sind Sie mit dieser Entscheidung im Vergleich zu anderen Versorgern so vorgeprescht?
Müller: Um den Menschen in Mannheim und der Umgebung so früh und so klar wie möglich zu sagen, womit sie rechnen müssen. Damit alle, die in nächster Zeit für sich und ihre Immobilie eine Entscheidung über eine neue Heizung treffen müssen, wissen, woran sie sind – und sich keine falschen Hoffnungen machen. Letztlich war die Kernfrage, die wir uns gestellt haben: Was ist, wenn wir es jetzt nicht konkret sagen, sondern erst in fünf Jahren? Dann hätten doch alle, die sich in der Zwischenzeit für eine Gasheizung entscheiden, zu Recht gedacht: Das hättet ihr uns auch vor fünf Jahren sagen können! Und im Vergleich mit anderen Unternehmen sind wir häufig schneller mit unseren Einschätzungen: Deshalb stehen wir ja auch da, wo wir heute stehen.
Aber die EU-Gasbinnenmarktrichtlinie ist ja noch nicht mal in deutsches Recht umgesetzt.
Müller: Richtig, aber die Mitgliedstaaten haben an dieser Stelle keinen Spielraum: Es müssen Stilllegungspläne für Erdgas-Verteilnetze erarbeitet und zur Genehmigung vorgelegt werden. Die Frage ist nur noch, wie die Details ausgestaltet werden.
Die Richtlinie zwingt aber weder zu einer Stilllegung des kompletten Netzes noch schreibt sie das Jahr 2035 vor: Wäre es nicht ein Kompromiss, das Gasnetz da zu erhalten, wo keine Fernwärme verfügbar sein wird?
Müller: Das wäre für die Gaskunden total unwirtschaftlich, weil es viel zu wenige sind, um ein Netz finanziell zu tragen. Und vermutlich würde es auch technisch nicht gut funktionieren, weil wir dann lauter Insellösungen hätten.
Wie fix ist das Ausstiegsjahr 2035?
Müller: Das ist die heutige, sehr ernsthafte Einschätzung der MVV, die natürlich inhaltlich davon abhängig ist, wie sich das Umfeld weiterentwickelt. Deswegen ist sie nicht in Stein gemeißelt. Aber sie ist auch nicht beliebig verschiebbar: Wenn es 2036 wird, ist das genauso in Ordnung. Es könnte aber auch 2034 werden, wenn die Dynamik so groß ist, dass am Ende nur noch wenige Gaskunden das Netz nutzen. Aus heutiger Sicht klingt 2035 vielleicht früh. Aber wir erwarten, dass durch die steigenden CO2-Preise und die wegen der Abschreibungen erhöhten Netzentgelte eine sich beschleunigende Eigendynamik entsteht.
Und was ist mit den klimafreundlichen Alternativen? Macht es sich die MVV nicht ein bisschen einfach, wenn sie sagt: Davon gibt es zu wenig? Sie könnten beispielsweise ja selbst versuchen, mehr Biomethan zu erzeugen.
Müller: Das haben wir. Wir sehen aber an unseren bestehenden Anlagen, dass wir selbst dort an der oberen Preisgrenze liegen. Und an der neuen Anlage, die wir errichten wollten, haben wir gesehen, dass die Baupreise mittlerweile so einen Satz gemacht haben, dass die Produktion auf jeden Fall unwirtschaftlich gewesen wäre. Deshalb haben wir das Projekt aufgegeben. Und das geht nicht nur uns so, das sehen wir auch in der Breite der Branche. Aber selbst wenn wir die Anlage trotzdem gebaut hätten, hätten wir immer noch nicht genug Biomethan, um auch nur Mannheim flächendeckend zu versorgen.
Und Wasserstoff?
Müller: Da sehen wir heute, dass er in viel geringeren Mengen verfügbar sein wird, als noch vor ein paar Jahren erwartet. Und die Mengen, die da sind, werden im Regelfall in die Industrie gehen, um dort die Produktionsprozesse zu dekarbonisieren. Er wird also in der Breite für die Gebäudeheizung mengenmäßig nicht zur Verfügung stehen. Und preislich wird er ebenfalls nicht attraktiv sein, weil die erforderlichen Umwandlungsprozesse kostentreibend sind. Diese Einschätzung liegt übrigens auch fast allen kommunalen Wärmeplänen in Baden-Württemberg zugrunde, die wie Mannheim ebenfalls auf Gas verzichten.
Viele Gemeinden im Mannheimer Umland haben noch keine Wärmepläne: Erhöht das die Chancen, dass das Gasnetz etwa in Ilvesheim, Ladenburg oder Edingen-Neckarhausen erhalten bleibt?
Müller: Entscheidend ist immer die jeweilige kommunale Wärmeplanung. Wir gehen aber davon aus, dass die generelle Dynamik in diesen Gemeinden ähnlich sein wird, weshalb wir auch dort den Rückzug bis 2035 anstreben.
Und wenn eine Gemeinde unbedingt am Gas festhalten will?
Müller: Dann kommt es auf die Konzessionsverträge an. Theoretisch gäbe es die Option eines Weiterbetriebs – allerdings nur, wenn sich ein Betreiber findet, der bezüglich konventionellen Gases, Biomethan oder Wasserstoff zu einer gänzlich anderen Einschätzung kommt als wir heute.
Es gibt Menschen, die behaupten, Sie haben das Gas-Aus nur angekündigt, um mehr Fernwärmeanschlüsse und Wärmepumpen zu verkaufen. Was sagen Sie denen?
Müller: Das ist falsch. Wir haben dabei keine Hintergedanken.
Wird das Thema noch mal im Aufsichtsrat behandelt?
Müller: Unser Umgang mit konventionellem Gas und dem Gasnetz sind Themen, die in die strategische Positionierung und die Ziele des Unternehmens eingebettet sind, die der Aufsichtsrat regelmäßig und wiederkehrend berät.
Schafft das Stromnetz es, wenn neben der Digitalisierung und den ganzen E-Autos in den kommenden Jahren noch Tausende Wärmepumpen dazukommen?
Müller: Da mache ich mir keine Sorgen: Alle Netzbetreiber investieren sowohl in die Kapazität wie auch in die Digitalisierung, so dass man das Netz gut steuern kann.
In der Industrie dürften sich aber viele Sorgen machen, dass sie künftig kein Gas mehr erhalten.
Müller: Hier muss man klar unterscheiden: Unser Hochdrucknetz für industrielle Kunden erhalten wir aufrecht, da es für diese eine Wasserstoffoption geben kann. Zudem erarbeiten wir in engem Austausch mit den Unternehmen individuelle Lösungen für deren Dekarbonisierung. Das Beispiel Olam, wo durch das Verbrennen von Kakaoschalen nun Prozessdampf gewonnen wird, beweist, dass es hier sehr gute Lösungen gibt, die die Unternehmen auch wirtschaftlich unabhängiger machen. Es ist also nicht so, dass wir dem Wirtschaftsstandort Mannheim das Gas abdrehen.
Sie selbst ziehen sich Ende März zurück: Haben Sie das Gas-Aus bewusst noch vorher kommuniziert, um Ihrem Nachfolger oder Ihrer Nachfolgerin einen unpopulären Start zu ersparen?
Müller: Nein, das hat damit nichts zu tun. Seit klar ist, dass ich gehen werde, habe ich mich weder vor schwierigen Entscheidungen gedrückt noch schöne nach vorn gezogen: Ich arbeite ganz normal weiter.
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