Mannheim. Es ist eine kurze, fließende Bewegung, dann ist Niclas Kaluza geschickt in seinen neuen Arm geschlüpft. Ein konzentriertes Stirnrunzeln und Muskelanspannen - schon bewegen sich die feinen mechanischen Finger der künstlichen Hand und die Augen des Achtjährigen leuchten begeistert auf. „Wow, das ist so cool“, entfährt es dem Jungen, während neben ihm die Eltern freudig nicken.
Bei der Übergabe im Gesundheitshaus Fuchs+Möller in Neckarau sind alle Augen auf Niclas aus Hochstätten bei Bad Kreuznach gerichtet. Schließlich ist dieser Moment nicht nur ganz besonders für den Jungen selbst, der mit nur einem Arm zur Welt gekommen ist und hofft, endlich mit diesem Superarm von anderen Kindern akzeptiert zu werden. Auch für seine Eltern, die sich wünschen, dass ihr Sohn damit endlich normal behandelt wird, ist er besonders. Genauso für den Hersteller, der schon eine starke Nachfrage für das Nischenprodukt verzeichnet - und zum ersten Mal in Deutschland einen so jungen Kunden mit dieser myoelektrischen Prothese ausstattet. Und für die kleine orthopädische Lobby der Armprothetik, wo künstliche Kinderhände in den vergangenen 25 Jahren kaum weiterentwickelt wurden.
Prothese aus dem 3D-Drucker
Das Bahnbrechende daran: Die Prothese stammt komplett aus dem 3D-Druck. Sie ist damit laut Hersteller, der britischen Firma Open Bionics, deutlich leichter, luftdurchlässiger und günstiger als gängige Modell auf dem Markt. Dabei gleicht die Prothese einem Roboterarm aus der Zukunft. Beim Auspacken und Ausprobieren an diesem Novembertag zeigt sich, ob dieses Modell wirklich hält, was es verspricht.
Ob der Achtjähriger das Hightech-Gerät wirklich so leicht steuern kann wie erhofft, und warum die neue Prothese für Niclas und seine Eltern so wichtig ist. Im Gespräch mit seinem langjährigen Orthopädietechniker und einem erfahrenen Kinderchirurgen am Universitätsklinikum (UMM) Mannheim wird deutlich, welche Behandlungsmethoden es gibt und wie der kindliche Roboterarm den Alltag von Niclas und möglicherweise den von anderen Kindern mit ähnlichem Schicksal verändern könnte.
„Sitzt der Arm auch wirklich? Dann lass uns mal testen, was du damit alles kannst!“, fordert Orthopädietechniker-Meister Sebastian Hannen den Achtjährigen nach dem Auspacken im Sanitätshaus auf. Dabei kommen die mitgelieferten magnetischen Schutzhüllen besonders gut an - sie sind im Stil des Marvel-Films Black Panther gehalten. „Das sieht super geil aus. Ich kenne alle Filme davon, deshalb hab’ ich sie ausgesucht“, begründet Niclas seine Wahl, während er fasziniert die Hüllen mit der linken Hand und mit etwas Hilfe von Hannen auf und wieder abzieht.
Für rund 20 Kinder aus der Region, denen ein Arm oder beide Arme fehlen, fertigt Hannen seit 25 Jahren Armprothesen an. Auch für Niclas hat der Spezialist schon zwei Kinderhandprothesen gebaut. „Die waren ihm aber viel zu schwer. Lediglich drei von fünf Fingern waren beweglich. Die konnten sich aber nur öffnen und schließen - das hat ihn gar nicht erfüllt“, weiß Hannen. Weil der Achtjährige aus seiner alten Prothese herausgewachsen war, hatte der Spezialist nach einem leichteren, flexibleren System gesucht - und ist beim diesem neuen 3D-Druckarm fündig geworden.
Myoelektrische Prothesen
- Die myoelektrischen Prothesen funktionieren alle nach dem gleichen Prinzip: Zwei Elektroden, die auf der Haut liegen, fangen Muskelsignale im Armstumpf ab und wandeln sie um in elektrische Impulse, die wiederum an die Elektronik in der Hand weitergeleitet werden.
- Durch Anspannen und Entspannen der Muskeln im Unterarm können die Träger so die künstliche Hand steuern. Verschiedene Handgriffe, wie der Pinzettengriff mit zwei Fingern oder das Halten eines Bechers, sind so möglich. Den Umgang muss man täglich trainieren, vergleichbar mit dem Erlernen eines Musikinstruments.
- Aktuell gibt es für kleine Kinder nur eine gängige Handprothese, die leicht genug ist. Ab neun Jahren ist die Armmuskulatur bei Kindern stark genug für einen Wechsel auf andere, deutlich schwerere Modelle.
- Erst ab einem Alter von fünf Jahren werden Kinder spielerisch in der Ergotherapie an das Benutzen einer Prothese herangeführt. Dort lernen sie, wie man durch Drehen des Unterarmstumpfs die verschiedenen Muskelpartien nutzt – und so die Handprothese öffnet oder schließt.
Warum das Aussehen für den Achtjährigen fast wichtiger ist als die Funktion, erklärt Mutter Cornelia Kaluza: „Er hat es in der Schule schwer, wir mussten sogar schon die Schule wechseln, weil er so wegen seines Armstumpfs gehänselt wurde. Kinder können sehr grausam sein - und Niclas will einfach nur dazugehören.“ Besonders betroffen macht die Familie, dass manche Lehrkräfte beim Mobbing mitmachten. Manche würden den Zweitklässler wegen seiner Fehlbildung so behandeln, als sei er auch geistig beeinträchtigt. „Dabei ist er kerngesund. Ich will, dass mein Sohn ganz normal behandelt wird“, sagt Kaluza, die bei der Lebenshilfe arbeitet.
Um es Kindern leichter zu machen, eine Prothese zu tragen, hat die britische Firma, die seit acht Monaten auch in Deutschland ihre Produkte vertreibt, extra eine Lizenz mit den US-Medienunternehmen Disney und Marvel abgeschlossen. Ihr Versprechen: eine vermeintliche Schwäche in eine Superkraft zu verwandeln - mit einem „Hero-Arm“ (Helden-Arm). Der soll seinen kleinen und großen Trägern wortwörtlich Superkräfte in Form von Selbstbewusstsein und neuer Bewegungsfreiheit im Alltag verleihen. Deshalb kann der Arm auch so aussehen, als käme er direkt aus der Schmiede von Marvel-Held Tony Stark mit seinem Iron-Man-Anzug. Oder von der Eisprinzessin Elsa persönlich, verziert mit Eiskristallen und Schneeflocken.
Die Prothese schafft Selbstbewusstsein
„Besonders für Kinder ist die Akzeptanz, dass sie selbst und andere die Prothese schön finden, sehr wichtig. Sie werden oft in der Schule gemobbt. Der Hero Arm ist cool und gesellschaftsfähig, obwohl er ein ganzheitliches medizinisches Produkt ist. Gerade Teenager verzichten oft auf ihre Prothese, weil sie sich dafür schämen. Das wollen wir ändern. Der Arm lässt sich übers Smartphone per App weiter anpassen“, sagt Bertin Güllübag, Geschäftsführer der deutschen Niederlassung von Open Bionics. Güllübag ist ebenfalls gelernter Orthopädietechniker und hilft dem Achtjährigen bei der Anprobe beim richtigen Einstellen.
Nach einem Muskeltest per Tablet und lockeren Handübungen muss Niclas die erste Feuerprobe bestehen: Tauziehen mit Orthopädietechniker Hannen. „Kein Problem“, ruft der Achtjährige begeistert und stemmt sich gegen den großen Techniker. Auch den nächsten Test besteht er locker: So stapelt er Hütchen und Bauklötze mit der künstlichen Hand so geschickt, als wäre sie schon ein Teil von ihm - und beeindruckt mit seinem Geschick alle im Raum.
Seit zehn Jahren verkauft Open Bionics die Robotik-Unterarme für Kinder und Erwachsene in England, Australien und den USA. Nun will das britische Unternehmen in Europa durchstarten - und wird dabei von der britischen Wirtschaftsförderung unterstützt. „Die 3D-Druck-Technologie bringt einen großen Preisvorteil. Damit können wir viel mehr Patienten erreichen, weil die Krankenkassen die Kosten übernehmen“, sagt Güllübag. Zwar verleiht die Prothese ihrem Träger keine übermenschlichen, dafür aber neue Fähigkeiten: etwa, eine Flasche aufzuschrauben, einen Reißverschluss zu benutzen - oder beim Basketball einen Korb mit zwei Händen zu werfen.
Auch ohne Prothese hat Niclas keine Probleme im Alltag
Was er als Erstes damit zu Hause ausprobieren will? „Mit meinen Dinos spielen, einen Becher halten und Fahrrad fahren“, verrät Niclas, der seinen Unterarmstumpf „Ärmchen“ nennt. Wer länger mit dem Grundschüler spricht, dem fällt auf: Der Achtjährige ist offen und aufgeweckt, so gar nicht schüchtern - und liebt Dinosaurier sowie die Jurassic-World-Filme.
So begeistert ist er davon, dass er einem stolz die mitgebrachten Sammelkarten samt Heften zeigt. Sein Ärmchen benutzt er dabei so selbstverständlich wie eine zweite Hand, sortiert Karten, präsentiert einen Spielzeug-T-Rex oder schnappt sich geschickt eine Chipsdose. Spätestens da ist klar: Zumindest körperlich braucht Niclas keinen Superarm, schließlich kommt er ziemlich gut ohne zurecht. Selbst Schwimmen, Klettern oder Handwerkern mit Vater Patrick - alles schon gemacht, berichtet seine Mutter.
Tatsächlich kommen Kinder wie Niclas, die so geboren wurden, häufig sogar besser ohne Prothese zurecht, weiß man in der Medizin: „Solchen Kindern fehlt aus ihrer Sicht ja nichts, für sie ist es normal, nur einen Arm zu haben. Sie nutzen die Prothese nur gezielt für bestimmte Situationen. Also als Hilfsmittel, wenn sie nicht weiterkommen“, weiß Oberarzt Daniel Svoboda der UMM. Seit 15 Jahren behandelt der Leiter der Kinderhandchirurgie junge Menschen, die nach Unfällen Gliedmaßen verloren haben oder mit einer seltenen Dysmelie, einer Fehlbildung von Armen oder Beinen, geboren wurden. Pro Jahr operiert Svoboda so rund 400 Kinder. In 90 Prozent der Fälle lassen sich dadurch Fehlbildungen korrigieren.
Sein Ziel: so viel Funktionalität wie möglich zurückzugeben. „Hände zu transplantieren ist nicht sinnvoll, weil wir nicht wissen, wie sich die Hand beim Wachstum verhält“, sagt Svoboda. Bei etwa 15 Kindern pro Jahr schlägt der Oberarzt eine Prothese vor - vermittelt seine Patienten beispielsweise weiter an Orthopädietechniker in Mannheim wie Hannen. Niclas neuen Superarm findet Svoboda interessant, „weil man damit früher Kinder an solche komplexen Prothesen gewöhnen kann.
Bislang musste man warten, bis der Armstumpf das Gewicht der Prothese stemmen konnte.“ Auch für Orthopädietechniker Hannen schließt das Modell eine Lücke für den Übergang vom Kinder- ins Jugendalter. Zwar müsse sich erst noch zeigen, wie gut der Unterarmstumpf tatsächlich darin belüftet wird. Die Handgröße, das Gewicht, die Reaktionszeit und der verstellbare Schaft passten zumindest für Niclas aktuell besser als andere. „So ein Modell hat gefehlt. Bislang gibt es eine vergleichbare Hand einer Karlsruher Firma, die schwerer ist.“
Wichtiger Test: Chips essen aus der Dose
Wie gut der neue Arm in der Praxis funktioniert, zeigt sich beim nächsten Test, den Hannen für Niclas vorbereitet hat: Chips essen aus der Dose. Dafür muss der Junge das Handgelenk des Hero Arms drehen - und nur Daumen und Zeigefinger für den Pinzettengriff zusammenführen. Hochkonzentriert spannt der Achtjährige seine Muskeln an - schafft es tatsächlich, einen Kartoffelchip zu halten. Der ist aber so dünn, dass es erst beim zweiten Versuch gelingt, ihn stolz Mutter Cornelia in die Hand zu geben.
Für sie ist seine Begeisterung für die Prothese nicht selbstverständlich. Schon als Baby habe ihr Sohn intuitiv alles mit dem Unterarm gemacht, eine zweite Hand also nie vermisst. Ob er je eine Prothese akzeptieren würde, hatte sein Arzt damals bezweifelt. „Die letzte Kinderhandprothese ist oft in der Ecke gelandet, sie hat ihn gestört“, erinnert sich Kaluza. Im Gespräch mit besorgten Eltern fällt Oberarzt Svoboda oft auf: Manche wünschten sich, dass ihr Kind die Prothese so oft und so lang wie möglich trägt. „Ein Fünfjähriger sieht das aber anders, ihn stört die Prothese beim Toben. Je älter man wird, desto öfter braucht man zwei Hände.“
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Bei seinen Patienten, die er bis zum Jugendalter betreut, beobachtet der Arzt noch etwas anderes: Die Heranwachsenden gehen dazu über, ihre Prothese griffbereit im Rucksack dabei zu haben. Teenager bevorzugen es immer öfter, bewusst die Prothese zu zeigen, statt sie zu verstecken. Trotz des Fortschritts in der Medizintechnik ist eine Prothese für den Arzt noch kein echter Armersatz. „Solange es nicht gelingt, dass Patienten über die mechanischen Finger etwas fühlen können, also das Nervensystem des Patienten damit zu verbinden, bleibt die Prothese ein Hilfsmittel.“
Niclas Wunsch nach einem zweiten Arm kommt damals erst auf, als ihn andere Kindern hänseln und verprügeln - was manchmal bis heute passiert. Aus Vorsicht und damit der Hightech-Arm nicht kaputt geht, will Mutter Cornelia zuerst mit ihrem Sohn die Prothese in der Klasse vorstellen. Bis dahin wird der Arm zu Hause getragen - und dort fleißig Tisch abräumen und Türöffnen geübt. Die Fehlbildung zu verstecken, kommt für die Kaluzas von Anfang an nicht in Frage. Sie gehen bewusst offen damit um, was die kürzeren Ärmel am Pulli beweisen: Die sind so umgenäht, dass der Stumpf sichtbar ist.
Tests für den neuen Arm
Dazu rät auch Chirurg Svoboda: „Das Kind wird dafür dankbar sein, denn der Armstumpf ist voller Nerven und deswegen weiterhin empfindsam.“ Zwar hat Niclas ein paar feste Freunde, die zu ihm halten. Um seinen Charakter zu stärken, versucht die Familie, ihn mit Gleichgesinnten zusammen zu bringen, wie etwa in der Kinderfreizeit der Lebenshilfe. Eine Selbsthilfegruppe in der Region vermisst seine Mutter noch und hofft darauf, bald andere Hero-Arm-Trägern zu treffen.
Zurück im Sanitätshaus muss Niclas den letzten und schwersten Test bestehen: mit Messer und Gabel einen Schwamm schneiden. So richtig im Griff hat er die Gabel noch nicht, muss öfters neu ansetzen. Über einen Knopf am Handrücken lassen sich die einzelnen Finger einfrieren, der Daumen bleibt steuerbar.
Niclas hat klaren Berufswunsch
Auch beim Suppe essen hapert es noch. „Macht alles nichts“, beruhigt Hannen. Mit Physio- und Ergotherapie soll Niclas das Umschalten auf die vier Handgriffe spielerisch lernen. „Je nachdem, wie oft er übt, hat er die Bedienung in zwei bis drei Monaten raus“, schätzt Hannen. Beim Sport soll der Arm wegen Verletzungsgefahr lieber daheim bleiben. Oberarzt Svoboda rät ebenfalls zur Ergotherapie. Je früher Kinder lernen, mit einer solchen Prothese umzugehen, desto besser kämen sie im späteren Leben als Erwachsener damit klar. Dieses Können braucht es etwa fürs Berufsleben beim Tippen am Computer oder beim Autofahren.
Was Niclas mal werden will? „Ich will Genforscher sein. Wenn ich den Arm perfekt steuern kann, soll der wasserdicht werden, damit ich später im Labor Dinos züchten kann“ , antwortet der Achtjährige. Als Weihnachtsgeschenk wünscht er sich ein eigenes Labor, samt Petrischalen und Pipetten. Ob der ehrgeizige Zweitklässler bis dahin seinen Arm so steuern kann, um eine Pipette zu halten? „Na klar, ich übe jetzt - in zwei Tagen hab ich’s raus!“
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