Mannheim. In den Monaten vor der Messerattacke auf dem Mannheimer Marktplatz am 31. Mai, bei der der Polizist Rouven Laur getötet wurde, bemerkten die Menschen im Umfeld des mutmaßlichen Attentäters Sulaiman A. Veränderungen an ihm. Er ließ sein Haar wachsen, bis es schulterlang war, und ließ sich einen Bart stehen. Ab und an soll er auch einen schwarzen Lidstrich aufgetragen haben - in Anlehnung an den Propheten Mohammed.
Nachbarn in dem Heppenheimer Hochhaus, in dem A. lebte, fiel auf, dass er nicht mehr mit Frauen den Aufzug teilen wollte. Und frühere Bekannte, aber auch Familienmitglieder, berichten nach Informationen dieser Redaktion, dass er sich von denen zurückzog, die seine neueren Vorstellungen von der Welt nicht teilten. Die nicht mit ihm in religiösen Fragen übereinstimmten. Doch wie radikalisierte sich Sulaiman A.? Wann wurde aus seinen Überzeugungen radikaler Wahnsinn? Und wie passt das zu den aktuellen Methoden des Islamischen Staats (IS)?
Mannheimer Messerangriff: Die Radikalisierung Sulaiman Ataees
In den Monaten nach der Tat haben Ermittlerinnen und Ermittler die Geschichte des 25-Jährigen rekonstruiert. Demnach wurde er 1999 im afghanischen Herat geboren und hat fünf Geschwister. Mit 14 Jahren soll er mit seinem Bruder als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Deutschland gekommen sein, wo er zunächst in Jugendhilfeeinrichtungen in Frankfurt und Bensheim lebte, später wohnte er in Lorsch.
Zunächst schien es nach Informationen dieser Redaktion gut für A. in Deutschland zu laufen. Es gibt Bilder, die zeigen den jugendlichen Ataee nach einem Taekwondo-Turnier, er hat einen offenen Blick, kurzes Haar, grinst in die Kamera, beißt auf die gewonnene Medaille. Er soll er auch andere im Taekwondo trainiert haben.
A. lernte Deutsch, machte seinen Hauptschulabschluss und später auch seinen Realschulabschluss an der Abendschule. 2019, da war er 20 Jahre alt, heiratete er eine Deutsche mit türkischen Wurzeln. Das Paar bekam eine Tochter und einen Sohn. Und Sulaiman A. erhielt eine Aufenthaltserlaubnis bis 2026. Die Familie zog in eine Wohnung in ein Heppenheimer Hochhaus, das wenige Stunden nach dem Messerattentat in Mannheim von Journalistinnen und Journalisten belagert wurde.
Doch beruflich fand A. keinen Anschluss, hangelte sich von Job zu Job, arbeitete für eine Zeitarbeitsfirma und in einer Tapas-Bar. Ab 2017 engagierte er sich nach Informationen dieser Redaktion auch nicht mehr im Taekwondo.
Immer radikalere Inhalte in sich aufgesogen?
Und dann kam das Jahr 2021. Rund drei Jahre vor dem Messerattentat auf dem Mannheimer Marktplatz, bei dem A. - so wird es ihm von der Bundesanwaltschaft zu Last gelegt - mehrere Menschen teils schwer verletzte und den Polizisten Rouven Laur tötete, soll sich etwas bei ihm geändert haben.
Nach Informationen dieser Redaktion begann er sich dem salafistischen Prediger Pierre Vogel zuzuwenden und tauschte sich im Netz mit religiösen „Gelehrten“ aus. Auch soll er sich Videos angesehen haben, die um religiöse Fragen und um die Taliban kreisten. Die Inhalte, die er in sich aufsog, sollen immer radikaler geworden sein. Ein Jahr vor der Tat soll er Gewalt im Namen des Islams nicht mehr nur gutgeheißen, sondern darüber nachgedacht haben, selbst aktiv zu werden. Später soll er intensiv Propaganda-Inhalte des IS studiert haben. Seinen radikalen Gesprächspartnern soll er im Chat immer konkretere Fragen gestellt haben - etwa zu den Aufgaben zu Muslimen in Europa und den USA. Und danach, ob es legitim sei, auch Kinder, Frauen und ältere Menschen zu töten.
Dann kam der 31. Mai und A. machte sich - das ist längst bekannt - von Heppenheim auf den Weg nach Mannheim, offenbar um dort gezielt Mitglieder der „Bürgerbewegung Pax Europa“ anzugreifen, die dort eine Kundgebung vorbereiteten. A. stach auf den Chef des rechtspopulistischen Vereins, Michael Stürzenberger, seine Mitstreiter und herbeigeeilte Passanten sowie auf den Polizisten Rouven Laur ein. Ihn verletzte er so schwer am Kopf, dass er wenige Tage später starb. Vier weitere Menschen verletzte er zum Teil schwer, darunter Stürzenberger.
Das Mannheimer Attentat im Kontext der IS-Strategie
Anfang November ist bekanntgeworden, dass die Bundesanwaltschaft im Oktober Anklage gegen den Messerattentäter Sulaiman A. erhoben hat. Sie wirft dem 25-jährigen Afghanen Mord und versuchten Mord aus islamistischen Motiven sowie gefährliche Körperverletzung vor. Ein Prozess könnte im ersten Quartal 2025 beginnen.
„Dieses Attentat passt hundertprozentig zur Strategie des IS“, sagt Terrorexperte Hans-Jakob Schindler im Gespräch mit dieser Redaktion. Schindler ist Senior Director beim „Counter Extremism Project“ mit Sitz in Berlin und New York, einer gemeinnützigen, internationalen Organisation, die der Bedrohung durch extremistische Ideologien entgegenwirken will. Zuvor arbeitete der Sicherheitsexperte, der aus der Westpfalz stammt, unter anderem im diplomatischen Dienst an der Botschaft in Teheran und als Berater im UN-Sicherheitsrat.
Was in Mannheim passiert sei, falle in die Kategorie der sogenannten „inspirierten Anschläge“, sagt Schindler. 2017 habe der IS dezidiert zu dieser Form von Anschlägen aufgerufen und an Anhänger appelliert, nicht mehr in den Irak oder nach Syrien zu kommen und stattdessen lieber zu spenden - oder eben im Ausland aktiv zu werden. „Dazu gab es eigens Videos, in denen, wie immer bei der IS-Propaganda besonders grausam, Messerattacken am lebenden Objekt gezeigt wurden“, sagt Schindler. Darin habe es genaue Anweisungen gegeben, etwa welches Messer geeignet sei, besonders großen Schaden anzurichten, oder welche Körperregionen äußerst vulnerabel seien.
Gezielte Online-Kommunikation des "IS"
„Für den IS bedeutet ein solcher Anschlag wie in Mannheim null Risiko und null Kosten“, so Schindler. Zwar sei der Schaden „vergleichsweise gering“, aber der wiedererstarkte IS bedient sich längst zweier weiterer Methoden. Erstens: Die Terroristen sind wieder dazu übergegangen, komplexe Anschläge zu planen, wie sie Mitte der 10er-Jahre vor allem Frankreich erschütterten. Und zweitens verübe die Terrororganisation sogenannte „angeleitete Anschläge“, sagt Schindler.
Menschen, die sich im Stillen radikalisiert haben, bekommen per Online-Kommunikation „professionelle“ Unterstützung durch IS-Terrorprofis bei der Verwirklichung ihrer Pläne. „Dass der IS in Europa versucht, mit allen drei Methoden Anschläge zu verüben, zeigt, wie viel Freiheit er wieder hat“, sagt der Sicherheitsexperte. Nach dem Ende der großen Militäroperationen im Irak und in Syrien, dem Abzug aus Afghanistan und dem Rückzug der internationalen Gemeinschaft aus Westafrika habe der Islamische Staat wieder erstarken können.
„Der Mannheimer Anschlag ist einerseits Ausdruck der schon seit 2017 bestehenden erfolgreichen Strategie, auch einfach Leute zu Anschlägen zu animieren, die gar nicht in Kontakt mit dem IS sind“, sagt Schindler. Gleichzeitig sei das Messerattentat aber auch Teil einer ganz neuen Situation, die daraus resultiere, „dass wir kollektiv als Regierungen und Gesellschaften entschieden haben, Terrorismus nicht mehr in Afghanistan, Syrien, Westafrika oder Ostafrika zu bekämpfen, sondern hier in Deutschland.“ Dies führe zu einer sehr viel komplexeren inneren Sicherheitslage, die mit den aktuell geltenden „engen Befugnissen“ für unsere Sicherheitsdienste - etwa mit Blick auf Massendaten und Künstliche Intelligenz - nur schwer beherrschbar sei, sagt Schindler.
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