Mannheim. Man kann schmunzeln, traurig werden und staunen, viele Knöpfe drücken, noch mehr sehen, erleben, sogar das Ruckeln auf historischem Straßenpflaster spüren. Immer wieder rasen Bilder oder Videos an einem vorbei: Fakten und Eindrücke ohne Ende, unterhaltsam und auf eine eindrucksvolle, nie da gewesene Weise dargeboten – das ist die neue Ausstellung des Marchivums zur Stadtgeschichte.
Sie ist auf eine Weise gestaltet, „wie Sie das in der deutschen Archiv- und Museumslandschaft so nirgendwo finden werden“, verweist Marchivum-Direktor Ulrich Nieß auf den konsequent digitalen Ansatz. Es gibt keine Vitrinen, fast keine Exponate, sondern man setzt völlig neue Standards der modernen, interaktiven Vermittlung mit Video- und hinterleuchteten Fotowänden.
Der Einstieg
400 Jahre Mannheimer Stadtgeschichte im Zeitraffer von viereinhalb Minuten – so geht es los. Der dynamische Schnelldurchgang mit Ton, animierten historischen Bildern und Zeittafel besticht dadurch, dass auf ein Modell der heutigen Quadrate projiziert wird, wie die Stadt in welchem Jahrhundert aussah. Man sieht, wie die Quadrate wachsen, wie sie wieder zerstört werden, wie die Festungsmauern fallen und dann dort Grün wächst. Wenn 1840 der Hafen entsteht, leuchten die Flächen blau auf, leuchtende Linien symbolisieren die neuen Bahntrassen. Ein guter, aufschlussreicher Kurzüberblick.
17. Jahrhundert
Jetzt ist der Besucher selbst gefordert. Ein Tastendruck, dann erscheinen die passenden Bilder und Texte. Will man wissen, wie das Fischerdorf Mannheim und das Leben an zwei Flüssen aussahen oder der Festungsbau? Oder was der schwarze Tod, die Pest, bedeutete, die Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges? Zehn Themen sind abrufbar.
18. Jahrhundert
Es wird witzig. Die Kurfürsten Johann Wilhelm (auch Jan Wellem, 1658-1716), Carl Philipp (1661-1742) und Carl Theodor (1724-1799) liefern sich, als hätten sie alle gleichzeitig gelebt, einen Schlagabtausch, wer wohl mehr für Mannheim geleistet hat. Man erfährt viel über die Bedeutung der Kurfürsten und Mannheims „Goldene Zeit“, aber die Animationen der zum Sprechen gebrachten Gemälde sind auch sehr amüsant gemacht. Sogar ein Hund bewegt sich, und eine Krone wackelt.
Weil im 18. Jahrhundert nicht alles glänzt, erfährt man in einem bedrückend engen Bunkerraum – da kommt dem Projekt die Bunker-Architektur zugute – von der elfjährigen Waisenen Johanna und ihrem harten Leben im Zucht- und Waisenhaus. Selbst tätig werden und die wissenschaftlichen, musikalischen und technischen Errungenschaften jener Epoche spielerisch erkunden kann man gleich nebenan mit dreidimensionalen Objekten. Anfassen ist ausdrücklich erlaubt! Die moderne Technik funktioniert zwar noch nicht ganz, aber das kommt.
Viele Spenden vom Freundeskreis
„Es ist umwerfend, es ist toll“: So fasste Michael Caroli vom Vorstand des Freundeskreises Marchivum die Eindrücke vieler Mitglieder zusammen, die schon die – fast – fertige Ausstellung exklusiv vorab besichtigen durften. „Wir alle sind gespannt, es ist ein großes Ereignis für unser Marchivum“, freute sich Helen Heberer, die Vorsitzende des 675 Mitglieder zählenden Freundeskreises, dessen Mitglieder künftig den Buchshop im Eingangsbereich ehrenamtlich besetzen.
Der Gemeinderat bewilligte für die Stadtgeschichtliche Ausstellung im Erdgeschoss des Ochsenpferchbunkers und für das dann 2022 entstehende NS-Dokumentationszentrum im ersten Obergeschoss ein Budget von 2,9 Millionen Euro – mit der Auflage, dass 750 000 Euro über Spenden hereinzuholen sind. Das gelang.
„Wir haben mächtig gesammelt“, so Helen Heberer. 750 000 Euro kamen zusammen, wobei die Heinrich-Vetter-Stiftung, die GBG Mannheimer Wohnungsbaugesellschaft, das Bauhaus, die Firma Gehr, die Karin und Carl-Heinrich Esser Stiftung und die Baden-Württemberg-Stiftung die größten Beiträge beisteuerten. „Es kamen aber auch ganz viele Kleinspenden, was den emotionalen Zusammenhalt unseres Vereins ebenso zeigt wie die Tatsache, wie wichtig das Marchivum den Mannheimern ist“, so Heberer.
19. Jahrhundert
Auch die Station, welche die Bedeutung des Wasserturms für Mannheim erklärt, klappt noch nicht – der Chipmangel wirkt sich auch hier aus. Aber die Wand gegenüber ist für den Anfang beeindruckend und vielfältig genug. Mannheim gehört ab 1803 zu Baden, die Revolution 1848, die Industrialisierung, die vielen Erfindungen, das Schloss als Witwensitz der Großherzogin Stephanie – zu allem gibt es Fotos. Und wer die berührt, erfährt mehr zur Geschichte – hier kann man sich endlos beschäftigen. Dann heißt es einmal bitte Platz nehmen auf einem Nachbau vom ersten Automobil von Carl Benz, dann kann es losgehen. Der Raum ist der absolute Höhepunkt, eine tolle, originelle Idee und prima umgesetzt. Wer mit dem Hebel Gas gibt, fährt durch die Quadrate – Fotos von damals werden an die drei Wände projiziert, man glaubt, wirklich in das Mannheim der Jahrhundertwende einzutauchen. Es gibt zwei Routen, entweder die Breite Straße entlang mit Infos zu Erfindungen rund um die Mobilität oder auf den Planken mit Einblendungen zu der Warenhaus-, Banken- und Theatergeschichte. Aber es ruckelt beim Fahren, und bitte das Tanken nicht vergessen – in der Apotheke!
Erster Weltkrieg
Ein schmaler, beklemmender Raum, eng wie einst ein Schützengraben. Vom Hurra-Patriotismus und der Kriegsbegeisterung ist schnell nichts mehr zu spüren, als es in Mannheim erste Luftangriffe gibt und viele verwundete, traumatisierte Soldaten in Lazaretten gepflegt werden müssen.
20. Jahrhundert
Über 400 Fotos stehen für die Epoche vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zu Mannheims erstem Nachtbürgermeister 2018. Was einen interessiert, kann man anklicken und sich so selbst die nötigen Informationen erschließen. Zusammenhänge oder Gegensätze werden aufgezeigt, alles auf Tastendruck an der imposanten, interaktiven Bildwand.
Eintritt, Regeln und Öffnungszeiten
Die neue Dauerausstellung im Marchivum im Ochsenpferchbunker in der Neckarstadt zeichnet auf mehr als 500 Quadratmetern die über 400 Jahre alte Historie Mannheims auf bisher nie da gewesene Weise nach.
Die Ausstellung wurde vom Marchivum-Team konzipiert und von der Berliner Arbeitsgemeinschaft Tatwerk/finke.media in enger Zusammenarbeit mit dem kanadischen Medienspezialisten und Künstler Stacey Spiegel gestaltet.
Eröffnungswochenende: Freitag, 5. November, bis Sonntag, 7. November, jeweils 10 bis 18 Uhr. Eintritt frei, Führungen kostenfrei jeweils um 11, 13, 15 und 17 Uhr, Teilnehmerzahl begrenzt. Es gilt die 3G-Regel.
Öffnungszeiten danach: Dienstag, Donnerstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Mittwoch 10 bis 20 Uhr. Führungen dann ohne Anmeldung, aber mit begrenzter Teilnehmerzahl mittwochs 16.30 Uhr und sonntags um 15 Uhr.
Eintritt: Einzelticket fünf Euro, ermäßigt 2,50 Euro, Schüler in Klassen ein Euro.
Promis und Stadtteile
Man stellt sich auf einen Teppich, auf dem die Umrisse aller 17 Stadtbezirke eingewebt sind. Steht man zum Beispiel auf der Stelle „Feudenheim“, wird die Videowand aktiviert, und es spricht eine Feudenheimerin, was sie für ihren Vorort empfindet – man hört das per „Klangdusche“, die direkt über dem Kopf ausgelöst wird.
Und 15 Mannheimer – von Seppl Herberger über die erste Pilotin Else Kocher bis zu Dario Fontanella, Fred Reibold oder Charly Graf – stehen stellvertretend mit ihrer Geschichte und dann doch je einem beispielhaften Exponat (die einzigen Exponate der ganzen Ausstellung!) für die spannende Vielfalt Mannheims. Die 15 Personen können immer mal wieder ausgetauscht, die ganze Ausstellung mit ein paar Klicks aktualisiert werden – das ist ihre Stärke.
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