Mannheim. Als Yilmaz Holtz-Ersahin vor einem Jahr seine Stelle als neuer Leiter der Mannheimer Stadtbibliothek antritt, steckt die Stadt mitten in der Pandemie. Es gibt Kontaktverbote, seine Mitarbeiter kann er erst nach und nach kennenlernen: „Die soziale Nähe hat wirklich gefehlt, ich habe aber versucht, das zu überwinden“, sagt er mit Blick auf das vergangene Jahr.
Besonderer Schwerpunkt seiner Arbeit ist seit seinem Einstieg das Thema Nachhaltigkeit: „Wir wollen die 17 Klimaziele der Vereinten Nationen mit Leben füllen.“ Derzeit werden beim Projekt Säen und Ernten beispielsweise Saat-Tüten an allen Standorten der Bibliothek getauscht: „Durch das Tauschen wollen wir nicht nur etwas für die Pflanzenvielfalt tun, sondern für Begegnungen der Menschen sorgen, sie sollen ins Gespräch kommen“, so Holtz-Ersahin. Auch mit der Bundesgartenschau 2023 soll es „grüne“ Kooperationen geben: „Wir werden Klima-Lesungen anbieten, in denen es um Nachhaltigkeit, Arten- und Pflanzenvielfalt geht.“ Ohnehin sei die Bibliothek per se nachhaltig: „Das Teilen der Bücher ist ja auch nachhaltig, das Teilen von Wissen.“
Wenn es um den Krieg in der Ukraine geht, sieht Holtz-Ersahin die Bibliothek in der Pflicht, denn gerade hier müsse das Thema Frieden thematisiert werden: „Weltweit florieren Bibliotheken ja zurzeit als Leuchttürme der Bildungsarbeit, als Orte der Demokratie.“ Sie seien wichtig - nicht nur als Orte des Austauschs, sondern auch als Orte der Bildung für Nachhaltigkeit und Frieden: „Hier gibt es schließlich uneingeschränkten Zugang zu Informationen für alle gesellschaftlichen Schichten.“
Yilmaz Holtz-Ersahin
- Der Kommunikations- und Medienwissenschaftler Yilmaz Holtz-Ersahin trat am 1. Februar 2021 die Nachfolge von Bernd Schmid-Ruhe als Leiter der Stadtbibliothek Mannheim an. Zuvor leitete er die interkulturelle Bibliothek der Stadtbibliothek Duisburg.
- Holtz-Ersahin besuchte die Universität Neapel L‘Orientale und hielt zahlreiche Vorträge an den Goethe-Instituten Barcelona, Madrid, Istanbul und Izmir.
- Holtz-Ersahin (Jahrgang 1972) und seine Frau haben drei Kinder.
Holtz-Ersahin sieht Bibliotheken deshalb auf einem „guten Weg zurück ins goldene Zeitalter, nachdem vor 20 Jahren jeder über das Bibliothekssterben gesprochen hat“. Schließlich habe bei allen Neubauten der vergangenen Jahre nicht mehr die physische Präsenz der Medien im Vordergrund gestanden: „Sondern dass sie durch Angebote Begegnungen schaffen.“ Wie 2015 für Menschen aus Syrien seien auch jetzt die Türen offen für die Menschen aus der Ukraine: „Ich freue mich auf diese Begegnungen.“
Holtz-Ersahin sieht Bibliotheken auch als Orte, die Hass oder Fake News vorbeugen können. Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine habe das Haus deshalb sofort Literatur-Sammlungen zusammengestellt, die informieren sollen. Zudem werden derzeit Angebote für Flüchtlinge kreiert, zweisprachige Medien in ukrainischer und deutscher Sprache gekauft. „Wo Begegnungen stattfinden, findet auch Demokratie statt, das geht nicht in den eigenen vier Wänden.“ Durch den Krieg werde auch die Gesellschaft in der Quadratestadt gewandelt: „Diesen Ort der interkulturellen Vielfalt und Begegnung müssen wir stärken.“
Neubau der Mannheimer Stadtbibliothek soll 2026 fertig sein
Der Neubau der Stadtbibliothek ist ein weiteres Projekt, das Holtz-Ersahin seit seinem Start in Mannheim beschäftigt: Das Gebäude, das in N 2 geplant ist, wird nach aktuellem Stand voraussichtlich 2026 fertig sein und soll Lernen und Bildung ermöglichen: „Da haben wir viele Möglichkeiten.“ Die Medienbildung möchte Holtz-Ersahin erweitern: „Nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene, es muss Medienkompetenzbildung für alle geben, wir leben in einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft.“ Mehr Investitionen in digitale Medien plant er ebenfalls, sieht die Bibliothek nicht nur als Freizeitgestaltung, sondern auch als Möglichkeit des Weiterkommens in der beruflichen Aus- und Fortbildung. An der Sichtbarkeit ihrer Angebote in der Stadt müsse die Bibliothek noch arbeiten: „Wir erreichen nicht alle Menschen, sie müssen den Wert von Bildung und Wissen erkennen.“ Viele Länder hätten Bodenschätze, Öl oder Diamanten: „Unsere Gesellschaft hat Wissen. Und je mehr Wissen es gibt, desto mehr Frieden gibt es.“
Doch nicht nur beim Angebot soll der Neubau der Stadtbibliothek zum Thema Nachhaltigkeit überzeugen, so Holtz-Ersahin. Auch bei der Ausstattung möchte Mannheim Akzente setzen. Er selbst hat jedenfalls schon den ersten Schritt getan - und zugunsten eines größeren Dachgartens auf ein Büro „ganz oben“ verzichtet. „Ich muss nicht da oben sitzen. Wir wollen lieber mit Pflanzen auch an Humboldt erinnern oder an Hildegard von Bingen, wollen eine Brücke zwischen Pflanzen und der Wissenschaft schaffen.“ Die grüne Oase in luftiger Höhe soll künstlerisch gestaltet werden - auch Goethe-Rosen sollen gepflanzt werden. Der Neubau, wünscht sich Holtz-Ersahin, soll zu einem sogenannten dritten Ort werden - neben Arbeit und dem Zuhause der Menschen: „Wir sind das Wohnzimmer dieser Stadt. Und jeder ist eingeladen.“
„Es gibt zwei Orte, wo ich Ruhe finde: in der Kirche oder in der Bibliothek"
Er ist stolz darauf, dass die Stadtbibliothek trotz der besonderen Situation seit Beginn der Pandemie für Kunden ansprechbar ist, inklusive Zweigstellen sowie Kinder-, Jugend- und Musikbibliothek: „Wir haben stark auf die Mobile Bibliothek gesetzt, die Medien waren stets auf Tour, es gab auch immer Angebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.“Auch die Kooperation mit verschiedenen Mannheimer Kunst-und Kultureinrichtungen, mit Schulen oder Kindergärten sei gelungen, viele neue Projekte mit beispielsweise der Goethe Gesellschaft, dem Nationaltheater oder dem Institut Français entstanden. „Mannheim hat einen großen Schatz an Kulturen, eine Vielfalt an Programmen. Mein Wunsch wäre, sie zu bündeln.“
Die Stadt lernt er in den vergangenen Monaten jedenfalls trotz der Pandemie gut kennen. Pausen und seine Freizeit verbringt er oft am Wasserturm, im Barockschloss oder in der Jesuitenkirche: „Es gibt zwei Orte, wo ich Ruhe finde: in der Kirche oder in der Bibliothek. In der Bibliothek finde ich mich selbst, in der Kirche Gott“, sagt er. Auch den Luisenpark habe er schätzen gelernt: „Ich bin angekommen und fühle mich zuhause in Mannheim.“