Medizin

Mannheimer Forscher arbeitet an Therapien für Multiple Sklerose

Der Mannheimer Mediziner Lucas Schirmer hat für seine Forschung zu Multipler Sklerose eine prestigeträchtige Heisenberg-Professur bekommen. Er arbeitet an Therapien der komplexen Erkrankung - und räumt mit Irrtümern auf

Von 
Waltraud Kirsch-Mayer
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Bei Multipler Sklerose greifen körpereigene – hier rote – Antikörper die Nervenzellen an. © peterschreiber.media/iStock, UMM

„Krankheit der tausend Gesichter“ wird Multiple Sklerose (MS) häufig genannt. Und nicht minder viele Fragen wirft die chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems auf. Lucas Schirmer von der Universitätsmedizin Mannheim (UMM) gehört zu jenen Neurowissenschaftlern, die den vielfältigen Folgen eines fehlgeleiteten Immunsystems auf der Spur sind. Für seinen Forschungsschwerpunkt hat der 40-Jährige unlängst als hochkarätige Auszeichnung eine Heisenberg-Professur eingeworben.

Mehr als 15 Jahre beschäftigt sich Schirmer mit dem Phänomen, dass körpereigene Abwehrtruppen die schützende Isolierschicht von Nervenfasern attackieren - anstatt Eindringlinge wie Bakterien, Viren und Co. auszuschalten. Das Enträtseln der Mechanismen von Krankheitsentstehung und Chronifizierung ist deshalb so schwierig, weil anders als beim berühmten Dominoeffekt nicht etwa ein stürzender Stein den nächsten zum Fallen bringt. Vielmehr verknäulen sich Ursachen und Wirkungen.

Lucas Schirmer und die UMM als MS-Schwerpunktzentrum

  • Der habilitierte Neurologe Lucas Schirmer kam nach Forschungsaufenthalten in San Francisco und Cambridge 2018 an die Universitätsmedizin Mannheim. Dort baute er als Geschäftsführender Oberarzt und Leiter für Neuroimmunologie an der Neurologischen Klinik eine wissenschaftliche Forschungsgruppe rund um Neurobiologie und Neuroinflammation auf.
  • Der 40-Jährige ist seit Juli nicht nur Inhaber einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft vergebenen W3-Heisenberg-Professur, er wurde außerdem für seine Arbeiten zu molekularen Veränderungen einzelnen Zelltypen bei Entzündungen im Nervengewebe mit dem Nachwuchspreis der Sobek-Stiftung ausgezeichnet .
  • Die UMM ist ein MS-Schwerpunktzentrum für die ambulante wie stationäre Behandlung und hält eine spezialisierte Ambulanz vor. Ein entsprechendes Qualitätszertifikat haben Fachgesellschaft und Selbsthilfeorganisation verliehen. Eine Tagesklinik mit dem Fokus auf entzündliche Nervenerkrankungen ist im Aufbau. wam

Die Medizin geht von folgendem Szenario aus: Immunzellen produzieren Botenstoffe, die Entzündungen und damit der Schädigung von Nervenfaserumhüllungen Vorschub leisten - mit der Folge, dass die Weiterleitung von Botschaften zwischen Hirn und Organismus nur noch schleichend verläuft. Und das bewirkt unterschiedliche Symptome: Verlieren beispielsweise Nervenfasern, die Sinnesinformationen tragen, ihren Schutzmantel, entstehen Empfindungsstörungen wie Taubheitsgefühle. Werden hingegen Signalträger von Befehlen an Muskeln attackiert, kommt es zu motorischen Beeinträchtigungen.

Therapie über Darmflora?

Warum sind manche Zellen für Schädigungen anfälliger als andere? Diese Frage treibt Lucas Schirmer um. Vor dem Hintergrund, dass im Hirn von MS-Betroffenen veränderte Zelltypen gefunden wurden und besonders anfällige Nervenzellen direkt unter den Hirnhäuten auftauchten, erforscht seine Arbeitsgruppe, was für Gene jeweils ausgelesen und in welchen Eiweißstoff übersetzt werden. Dazu werden Gewebeproben verstorbener Patienten mit denen gesunder Menschen verglichen. Dafür bedarf es diffiziler Hightech-Verfahren, um beispielsweise die RNA (Ribonukleinsäure) zu analysieren: Denn diese enge Verwandte der DNA als Speicher individueller Bauanleitungen wirkt bei Info-Übertragungen und beim Regulieren von Genaktivität als wahrer Tausendsassa.

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Überhaupt geht das Krankheitsgeschehen verschlungene Wege. So hat ein internationales Forschungsteam, zu dem auch Schirmer gehört, zwischen MS-Entzündungsherden und Darmflora eine spezielle Achse entdeckt. Im Blickpunkt stehen jene B-Zellen, die den Antiköper Immunglobulin A produzieren und nicht nur für die Gesundheit des Verdauungsorgans wichtig sind - obendrein wirken sie bei inflammatorischen Prozessen innerhalb des zentralen Nervensystem dämpfend. Noch ist der auslösende Mechanismus unklar. Aber wenn es gelingt, ihn zu entschlüsseln, könnte die Darmflora von MS-Betroffenen derart verändert werden, dass sich Anti-Entzündungszellen gezielt vom Darm ins Nervensystem aufmachen.

Viele Irrtümer kursieren

Neuen Therapieansätzen kommt gerade bei einer komplexen wie bislang unheilbaren Krankheit „große Bedeutung“ zu, wie der UMM-Neurowissenschaftler betont. Schirmer hofft deshalb auf die Entwicklung von Biomarkern, die eine frühe Diagnose und obendrein eine verlässliche Prognose des Krankheitsverlaufes ermöglichen - was maßgeschneiderte Therapien erleichtern würde. Schirmer: „Ich habe die Vision eines Biomarkers, der so einzigartig wie ein Fingerabdruck ist.“

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Der Mediziner und Forscher weiß, dass rund um die MS so manche Irrtümer kursieren. Als „völligen Unsinn“ bezeichnet er die Behauptung, die chronische Erkrankung ende grundsätzlich mit Arbeitsunfähigkeit im Rollstuhl. Dass selbst eine Polit-Spitzenkarriere möglich ist, beweist die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer, bei der 1995 Multiple Sklerose diagnostiziert wurde. Und auch das Gerücht von der in die Wiege gelegten Erbkrankheit hält sich hartnäckig. Es gibt zwar eine familiäre Disposition, so Schirmer, nicht aber ein ursächliches „MS-Gen“. Jenseits des Tatorts Immunsystem stehen nämlich viele Übeltäter in Verdacht. Beispielsweise im Körper schlafende Erreger wie das Epstein-Barr-Virus, das gerade in jüngster Zeit als MS-Beschleuniger für Schlagzeilen sorgt. Womöglich spielt auch der geografische Lebensraum eine zentrale Rolle. Weil am sonnenreichen Äquator dieses Nervenleiden extrem selten vorkommt, aber zu den Polen hin immer häufiger auftritt, drängt sich auf, dass Mangel an Vitamin D, im Volksmund Sonnenschein-Hormon genannt, als Risikofaktor mitmischt. Nicht von ungefähr gilt MS als „multifaktorielles Geschehen“.

Freie Autorin

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