Mannheim. Das Gespräch wird abrupt unterbrochen. „Egal, was du erzählst, die schreiben ohnehin, was sie wollen“, sagt eine Frau. Der junge Mann lächelt verlegen, die Frage, welcher Film gestern beim Protestcamp auf dem Mannheimer Marktplatz gezeigt worden sei, beantwortet er nicht mehr. Das tun später andere: Es war „Creation and Catastrophe“, ein Film über den Nahostkonflikt im Moment der Staatsgründung Israels. Einen Tag später, am 15. Mai 1948, griffen die Armeen von fünf arabischen Ländern den neuen Nachbarn Israel an. Es ist der Beginn des ersten arabisch-israelischen Krieges, in der Folge fliehen hunderttausende Palästinenser aus ihren Dörfern. Für sie ist es der Tag des Unglücks, sie nennen ihn Nakba, die Katastrophe. Seitdem wird jedes Jahr der 15. Mai als Nakba-Gedenktag begangen.
In Mannheim haben die Gruppen Free Palestine und Zaytouna ihn zum Anlass genommen, um in der vergangenen Woche verschiedene Veranstaltungen zu organisieren, Kundgebungen und Demonstrationen und erstmals in der Samstagnacht ein Protestcamp auf dem Marktplatz. Und da stehen sie nun am Sonntagmorgen, rund 50 oder 60 Menschen, sie erzählen, dass sie nicht viel geschlafen hätten, am Morgen sei noch Regen dazugekommen. Sie bauen die Zelte ab, rund 30 sind es, und Infostände auf, es soll Kuchen verkauft und weiter diskutiert werden.
„Free Palestine“, „Free Gaza“ (Befreit Palästina, befreit Gaza), „Stoppt die Besetzung, stoppt das Morden“, mit diesen immer gleichen Parolen ziehen propalästinensische Gruppen seit Monaten durch Deutschlands Innenstädte. Immer wieder kommt es vor, dass Demonstrationen verboten werden. Doch weil die Versammlungsfreiheit ein hohes Gut ist, finden die meisten Kundgebungen statt. Auch in Mannheim. Eskortiert werden die 1500 Demonstrierenden am Samstagnachmittag von Polizistinnen und Polizisten, mehr als 100 sind diesmal im Einsatz. Die Menschen kommen aus Mannheim und anderswo, Kaiserslautern, Offenbach, Frankfurt.
Demo in Mannheim: Free Palestine wirft Israel Genozid vor
„Wir stehen auf der Seite des Rechts“, ruft einer der Veranstalter den Menschen zu, die sich zu Beginn auf dem Alten Meßplatz versammeln. Dann will er etwas üben. Die Menschen sollen, wenn sie am Paradeplatz vorbeikommen, bei „Genozid“ in Richtung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft zeigen, die dort eine Kundgebung abhält, und rufen: „Mannheim, Mannheim, pick a side: justice or genocide“ (Mannheim, stell dich auf eine Seite: Gerechtigkeit oder Genozid). Und die Menschen folgen ihm: Als der Protestzug später den Paradeplatz passiert, ertönt immer wieder die Parole. Auf dem Wagen, der den Demonstrierenden vorausfährt, schreit einer: „Die paar Menschen“, und er behauptet: „Die Gesellschaft ist nicht gespalten, und wir spalten nicht die Gesellschaft.“
Nur fünfzig Meter von den Demonstrierenden entfernt stimmt Amnon Seelig ein Gebet für den Staat Israel an, Avinu Shebashamayim, und die Mannheimer Stadträtin und Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Heidrun Kämper (SPD), erinnert daran, warum der Staat Israel gegründet wurde: „Jüdinnen und Juden sollten ein sicheres Land haben, das ihnen Schutz gibt, wenn sie in ihrer Existenz bedroht sind.“ Rechts und links von Kämper steht Mannheims Politikprominenz und übt den parteiübergreifenden Schulterschluss. Bürgermeisterin Diana Pretzell (Grüne), der Bundestagsabgeordnete Konrad Stockmeier (FDP), die beiden Grünen-Stadträte Gerhard Fontagnier und Chris Rihm – sie warnen vor einem wachsenden Antisemitismus und mahnen, dass die freiheitliche Demokratie am Ende sei, wenn jüdisches Leben in Deutschland keinen Platz mehr habe.
Stadtrat Chris Rihm: „Wir verurteilen den Terror der Hamas"
Mit Blick auf den Nahost-Konflikt betonen sie vor rund 100 Zuhörerinnen und Zuhörern, dass die zivilen Opfer im Gazastreifen zu beklagen seien, auch ihnen gelte das Mitgefühl. „Wir verurteilen den Terror der Hamas, es ist feige, sich hinter Zivilisten zu verschanzen“, sagt Chris Rihm. Doch die Free Palestine-Bewegung schüre einseitig den Hass. „Die Hamas wird nie verurteilt.“
Und während eben jene langsam die Breite Straße heraufziehen, trommelnd und schreiend, geben Mannheims Politikerinnen und Politiker zu bedenken, dass der Nahost-Konflikt nicht in Mannheim gelöst werde. Deshalb: Der Konflikt dort dürfe den gesellschaftlichen Zusammenhalt hier nicht gefährden. Es müsse weiter diskutiert werden, kontrovers, aber friedlich. „Wer die Friedlichkeit des Dialogs in Frage stellt, der muss strafrechtlich verfolgt und bestraft werden“, so Konrad Stockmeier, er erinnert daran, dass die Terrororganisation Hamas in Deutschland einem Betätigungsverbot unterliege und das Skandieren von Parolen durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt sei.
Pro-palästinensisches Protestcamp: Zelte auf Mannheimer Marktplatz
Später begegnen sich die beiden Seiten noch einmal, diesmal hat die Polizei mehrere Busse gegenüber von Galeria Karstadt-Kaufhof in Länge des Paradeplatzes postiert. Sie bilden eine Mauer, hinter der die Teilnehmenden der Kundgebung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft stehen. Einige haben sich auf metallene Baumringe gestellt, um besser sehen zu können. Oder gesehen zu werden? Unter ihnen ist Amnon Seelig, der Kantor der Jüdischen Gemeinde Mannheim. Er trägt eine Kippa. „Shame on you, schämt euch“, rufen die Demonstrierenden. Einer sagt „Mörder“. Zwei Getränkedosen werden geworfen, einer Frau jenseits der Polizeibusse kommen die Tränen. Ein junger Mann versucht, sich zwischen zwei Wagen durchzuzwängen, ein Polizeibeamter stellt sich ihm in den Weg. Der Zug biegt ab Richtung Marktplatz, dem Ziel der Kundgebung.
Die Bilanz der Polizei am Sonntagnachmittag: Es habe keine Zwischenfälle gegeben, weder bei den Demonstrationen noch später in der Nacht im Protestcamp.
Auf dem Marktplatz packen die Menschen derweil ihre Siebensachen zusammen, einer hat eine Matratze dabei, darauf ein mannshoher Aufdruck der amerikanischen Freiheitsstatue.
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