Mannheim. Vor der Strafkammer 1 läuft ein Verfahren wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung: Es ist seit Jahresbeginn der fünfte Prozess am Landgericht, bei dem eine blutige Messerattacke im Mittelpunkt steht. Von Gewalt mit scharfer Klinge künden außerdem regelmäßig Polizeimeldungen - beispielsweise jene über drei unlängst verhaftete Männer, die im Quadrat J 7 einen 23-Jährigen während eines nächtlichen Kneipenbesuchs mit fünf Stichen lebensgefährlich verletzt haben sollen. Haben Messerangriffe in Mannheim zugenommen oder werden sie einfach stärker wahrgenommen? Bei der Suche nach Antworten offenbart sich ein Phänomen mit vielen Facetten.
Dass Attacken mit Schnittverletzungen überhaupt gesondert registriert werden, ist seit 2020 bundesweit verpflichtend - auf Grundlage der Definition: „Im Sinne der Erfassung von Straftaten in Polizeilichen Kriminalstatistiken sind Messerangriffe solche Tathandlungen, bei denen ein Angriff mit einem Messer unmittelbar gegen eine Person angedroht oder ausgeführt wird.“ Anders ausgedrückt: Das bloße Mitführen eines Werkzeugs mit Klinge taucht in keiner Statistik auf.
Auseinandersetzungen mit spitzer Waffe können also nur dann registriert werden, wenn sie sich öffentlich abspielen. Denn so manch eskalierendes Gewaltgerangel bleibt hinter verschlossener Tür verborgen. Auf „MM“-Anfrage teilt das Polizeipräsidium Mannheim mit: In der Quadratestadt bewegen sich erfasste Körperverletzungen mit Messer von 2016 bis 2021 „auf gleichbleibendem Niveau“ mit Schwankungen zwischen 24 bis 29 erfassten Delikten pro Jahr. „Keine besonderen Zu- und Abnahmen“ gelte auch für Messer-Straftaten „gegen das Leben“, zu denen auch versuchte Tötungen gezählt werden. Beispielsweise hatte bei der letztjährigen Messerattacke am Wasserturm das Opfer nur dank einer Not-OP überlebt: Der Angreifer, der mit seinem Klappmesser zwei Mal zugestochen hatte, ist im Februar von der Großen Jugendkammer zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt worden.
Angriffe auf Unbewaffnete
Dass die Zahl von Streitigkeiten, bei denen in Mannheim ein Messer gezückt wird, statistisch keine Riesensprünge macht, ist nur eine Seite der Medaille. Hingegen mehren sich Hinweise, dass in manchen Milieus das Mitführen eines Werkzeugs mit Klinge geradezu selbstverständlich geworden ist. Oberstaatsanwalt Andreas Grossmann, seit zwei Jahrzehnten bei der örtlichen Anklagebehörde und seit 2018 zuständig für allgemeine Kriminalität, schildert: „Insbesondere junge Männer scheinen aufzurüsten und teilweise nicht mehr ohne Messer aus dem Haus zu gehen.“ Nach seinem Eindruck bleibe es nicht allein bei „Imponiergehabe“. Vielmehr sinke die Hemmschwelle, so dass mitgenommene Stichwerkzeuge „auch bei geringfügigen Anlässen zu Angriffen verwendetet werden - und zwar in aller Regel auf Unbewaffnete“.
Ähnliche Beobachtungen kommen auch von anderer Seite: „Auffällig ist, mit welcher Selbstverständlichkeit heutzutage Messer mitgeführt und zum Teil auch aus nahezu nichtigem Anlass eingesetzt werden“, kommentiert Steffen Kling, seit 25 Jahren Fachanwalt für Strafrecht. Er macht die Erfahrung, dass „mehr und mehr junge Täter knapp über der Strafmündigkeit“ zustechen und das oftmals auf kaum oder gar nicht bekannte Opfer. Das klassische Motiv eines über Jahre schwelenden Beziehungskonfliktes sei bei Messerangriffen eher in den Hintergrund getreten.
Auch im Mannheimer Haus des Jugendrechts, wo Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendhilfe bei straffälligen Minderjährigen und Heranwachsenden zusammenarbeiten, wird der Trend, nur noch mit Messer auszugehen, intensiv diskutiert. In Gesprächen geben viele Jugendliche an, sie wollten sich lediglich im Fall eines Angriffes zur Wehr setzen. „Erschreckenderweise“, so die Polizei gegenüber dem „MM“, würden manche Eltern ihren Sprösslingen sogar ein Messer zur Verteidigung mitgeben. Deshalb arbeite man im Haus des Jugendrechts an präventiven Angeboten, um dem Messer-Trend entgegenzuwirken.
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Als im Frühjahr die Große Jugendkammer jene nächtliche Messerstecherei auf der Schlossparkwiese vor der Uni-Mensa ausleuchtete, bei der ein 23-Jähriger zwölf Stich- und Schnittwunden erlitten hatte, offenbarte sich: Alle fünf Angeklagten gehörten der Bande Classics an, die bereits bei mehreren Straftaten aufgefallen sind. Zeugen, auch junge Frauen, rund um die Gruppierung zeigten sich bei der Beweisaufnahme schmallippig und wenig kooperativ. Da drängt sich die Frage auf, ob in Mannheim Jugendbanden auf dem Vormarsch sind - ähnlich jener, die etwa in Mönchengladbach oder Halle von sich reden machen.
Vorlage für „messerfreie Zone“
„Reguläre Cliquen, die sich überwiegend durch Messereinsatz auszeichnen, sind mir so nicht bekannt“, erklärt Anwalt Kling, der die Szene aus vielen Strafverfahren kennt. Auch die Polizei sieht den Trend, beim Ausgehen ein Instrument mit Klinge so selbstverständlich wie den Hausschlüssel einzustecken, zumindest in Mannheim nicht als spezielles Selbstverständnis von Jugendcliquen oder Stadtteilgruppen.
Im vergangenen Jahr erlagen in Baden-Württemberg 24 Menschen den Verletzungen eines Messerangriffs - obwohl im Südwesten die Fälle von Gewaltkriminalität mit Messer gegenüber 2020 abnahmen. Innenminister Thomas Strobl (CDU) hat dieser Tage eine Kabinettsvorlage für „messerfreie Zonen“ an belebten Orten vorgestellt. Solche Bereiche können Kommunen bislang nur an Kriminalitätsschwerpunkten ausrufen.
Während sich die meisten Städte, abgesehen von Stuttgart, ob des Strobl-Vorstoßes noch bedeckt halten, meldete sich der Mannheimer Chef der Polizei-Gewerkschaft Thomas Mohr zu Wort und wird zitiert: „Ich bin für eine messerfreie Zone dort, wo sich unser Klientel bewegt.“
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Ein Messer dabei zu haben, ist inszenierte Männlichkeit