Kommentar Ein Messer dabei zu haben, ist inszenierte Männlichkeit

Waltraud Kirsch-Mayer über Messerattacken

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Waltraud Kirsch-Mayer
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Das Phänomen gefühlter Wahrheiten ist bekannt: Ob nun sengende Sonne bei Wind unterschätzt wird oder Tiefgaragen als Angstraum gelten, obwohl dort nur in Krimis überproportional häufig Verbrecher lauern. Angesichts aktueller Meldungen über Messerattacken gehört ebenfalls zur Kategorie gefühlter Wahrheiten, dass Gewalt mit scharfer Klinge dramatisch zugenommen hat. Das trifft aber in den meisten Städten und Regionen keineswegs zu. Der Blick in die Polizeistatistik belegt beispielsweise für den Rhein-Neckar-Kreis: „Straftaten gegen das Leben mit dem Messer“, also versuchte wie vollendete Tötungsdelikte, zeigen zwar Schwankungen – aber innerhalb fester Bandbreite. So gab es 2021 mit sechs erfassten Fällen einen blutigen Messerangriff weniger als im Jahr davor und sogar drei weniger als 2016 – hingegen wurden 2019 nur drei solcher Attacken dokumentiert.

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Statistiken spiegeln aber nur einen Teil der Realität. So taucht nirgends auf, wie häufig Stichwaffen mitgeführt werden. Dabei ist längst ein offenes Geheimnis, dass so manche Männer, darunter viele Minderjährige, ohne Messer gar nicht mehr das Haus verlassen. Psychologen sehen diesen Trend als Inszenierung der Männlichkeit, die als cool empfunden werde. Außerdem dominiere das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Dass dies Illusion ist, zeigen Prozesse, die Messerattacken ausleuchten – wie in fünf Verfahren seit Jahresbeginn am Mannheimer Landgericht. Insbesondere bei Jugendcliquen, so offenbaren Beweisaufnahmen, führt Gruppendynamik zum Zücken spitzer Klingen – und zum Zustechen. Dass massive Schnittverletzungen – etwa erlitt ein auf der Schlossparkwiese von einer Gruppe niedergestochener Partygast zwölf Wunden – glimpflich ausgehen, ist häufig nur einer Not-OP zu verdanken.

Auch wenn solcherart Gewalttaten vielerorts gesunken sein mögen, so bleibt das Problem: Zu einer Stichwaffe in der Hosentasche wird bei eskalierenden Konflikten, zumal in der Gruppe, schnell gegriffen – auch wenn eine solche Absicht vorher gar nicht bestanden hat. Nicht von ungefähr plädiert Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl dafür, Kommunen das Einrichten messerfreier Zonen zu erleichtern. Effektiver wäre freilich, dem Trend zum Messer als Selbstverständlichkeit entgegenzuwirken. In Berlin, wo bereits Kinder mit Stichwaffen aufschreckten, ist schon vor Jahren ein präventives Schulprogramm erarbeitet worden. Die Botschaft: „Du brauchst kein Messer – Messer machen Mörder.“

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