Sterbehilfe

Freitodbegleitung: Wenn Menschen nicht mehr leben wollen

Wie sollen Menschen in Deutschland sterben dürfen? Selbstbestimmt, hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt. Ein Besuch bei Bruno Weiß, dessen Mutter sich für eine Freitodbegleitung entschieden hat

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Stefanie Ball
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Wenn Menschen nicht mehr leben wollen, dürfen sie Hilfe in Anspruch nehmen. © Patrick Pleul/dpa

Mannheim. Noch während Dora Weiß (alle Namen von der Redaktion geändert) im Krankenhaus auf ihre Entlassung wartet, beschließt sie: Jetzt ist Schluss. Sie ist 80 Jahre alt, ihr Mann ist ein Jahr zuvor verstorben. Er wurde 83. Sie selbst ist Zeit ihres Lebens kränklich, mehr als 25 Operationen muss sie über sich ergehen lassen, unter anderem wegen mehrerer Krebserkrankungen.

Zuletzt ist es ein Loch im Darm. Die Ärzte im Krankenhaus legen ihr einen künstlichen Darmausgang. Die Zustände im Krankenhaus, die Narkosen setzen ihr zu, die Perspektive, nun ein Pflegefall zu sein, löst in Dora Weiß den Wunsch aus: Sie möchte sterben, und zwar zu Hause durch einen begleiteten Freitod.

Ärzte wollen kein Leben beenden

Sie ruft ihre Söhne an und sagt: „Macht euch schlau.“ Ein Freund ihres verstorbenen Mannes hatte ihr gesagt, dass sie dafür nicht in die Schweiz reisen müsse, sondern dass dies in Deutschland, in ihrer Wohnung möglich sei.

Die Kinder, die eigentlich keine mehr sind, weil sie selbst schon auf die 60 zugehen, sagen zu ihrer Mutter: „Das geht nicht so schnell.“ Bruno Weiß wendet sich an befreundete Ärzte. Die bestätigen, dass Sterbehilfe auch in Deutschland legal sei. Aber machen will das keiner. „Alle haben gesagt, ich habe den Beruf gewählt, um Menschenleben zu retten, nicht um sie zu beenden.“

Recht auf selbstbestimmtes Sterben

Doch seine Mutter habe ihr Dasein nicht mehr als Leben empfunden, sagt Bruno Weiß. Er wendet sich an die DGHS, die Gesellschaft für Humanes Sterben. Die Organisation gehört zu den drei Vereinen in Deutschland, die ärztlich assistierten Suizid anbieten. Zwar hatte der Bundestag 2015 ein Gesetz verabschiedet, das die gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung untersagt.

Fünf Jahre später, im Februar 2020, erklärt das Bundesverfassungsgericht das Gesetz jedoch für nicht verfassungskonform. Suizid, Selbstmord, ist in Deutschland erlaubt, und die Beihilfe dazu auch. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasse das Recht auf selbstbestimmtes Sterben, dieses Recht schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierfür Hilfe bei Dritten zu suchen, erklären die obersten deutschen Richter.

Sterbehilfe: Was in Deutschland erlaubt ist

  • Direkte/Aktive Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen) ist verboten. Spritzt ein Arzt oder ein Dritter einem Patienten ein tödliches Medikament, wird das nach § 216 Strafgesetzbuch bestraft (Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahre). 
  • Passive Sterbehilfe ist erlaubt. Ein schwer kranker Patient wird, sofern eine Patientenverfügung oder Willensäußerung vorliegt, nicht weiter behandelt, die Magensonde wird entfernt, die künstliche Beatmung abgestellt oder gar nicht erst begonnen. Lediglich die Basisbetreuung ist Pflicht (Körperpflege, Durstgefühl stillen).
  • Indirekte Sterbehilfe ist erlaubt. Durch eine Behandlung, die Gabe eines Medikaments etwa, das die Schmerzen eines Patienten im Endstadium lindert, wird in Kauf genommen, dass sich die Lebenszeit verkürzt. Der Tod tritt früher ein, als dies ohne die Behandlung passiert wäre.
  • Selbsttötung ist nicht strafbar, also ist auch die Beihilfe zum Suizid nicht strafbar. Dabei nimmt der Sterbewillige selbstständig eine Substanz zur Selbsttötung ein. Eine andere Person, ein Angehöriger, eine Ärztin oder ein Sterbehelfer, hat hierzu einen Beitrag geleistet, zum Beispiel hat er die tödliche Substanz zur Verfügung gestellt.
  • Um Vereine daran zu hindern – ähnlich wie in der SchweizBeihilfe zum Suizid zu leisten, hat der deutsche Gesetzgeber 2015 einen neuen Paragrafen 217 beschlossen, der das unter Strafe stellt.
  • Im Februar 2020 entschied aber das Bundesverfassungsgericht, dass das strafrechtliche Verbot geschäftsmäßiger Suizidassistenz, also der neue Paragraf, verfassungswidrig sei.
  • Das im Grundgesetz verankerte allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasse auch ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ und die „Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen“, urteilten die Richter in Karlsruhe. Nun muss der Bundestag die Suizidbeihilfe neu regeln. Dafür liegen drei fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe vor.
  • Während eine interfraktionelle Gruppe von Abgeordneten ein Suizidbeihilfegesetz anstrebt, will eine andere Gruppe eine auf Wiederholung angelegte (geschäftsmäßige) Suizidassistenz im Strafrecht verbieten. Es soll aber möglich sein, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Vorausgesetzt, der Suizidwillige lässt sich zwei Mal im Abstand von drei Monaten von einer Fachärztin beziehungsweise einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie untersuchen und nimmt an einer ergebnisoffenen Beratung teil.

Die Vereine verlangen für die Freitodbegleitung Geld. Bruno Weiß sagt, die von der DGHS aufgerufenen mehreren tausend Euro hätten deren Seriosität untermalt. Andere Organisationen hätten fast das Fünfstellige verlangt, das sei nicht nachvollziehbar gewesen.

Was ist der richtige Weg aus dem Leben?

Bruno Weiß sagt, hätte sein Vater den Sterbehilfewunsch geäußert, hätte er das womöglich nicht unterstützt. „Mein Vater war eine Frohnatur, der hat das Leben in vollen Zügen genossen.“ Das Leben seiner Mutter sei nicht immer leicht gewesen. Sie sei zwar eine Kämpfernatur gewesen, aber viel krank, psychisch und physisch. Manchmal denkt er, sie hätte das Leben trotzdem mehr genießen sollen.

Aber schließlich war es das Leben seiner Mutter. Und als sie das Krankenhaus im März kränker verlässt, als sie es Anfang des Jahres betreten hat, als klar ist, dass sie nicht mehr allein zu Hause leben kann, sondern ins Pflegeheim müsste - was sie aber partout ausschließt -, als er seine Mutter an dem Punkt sieht, wo sie einfach nicht mehr will, will er sie nicht überreden, doch noch zu wollen.

Bruno Weiß spricht mit seinem Bruder. „Wir haben uns natürlich gefragt, ob das der richtige Weg ist, um aus dem Leben zu scheiden.“ Aber was ist schon der falsche Weg? Für Bruno Weiß ist falsch, wenn jemand bei einem Autounfall oder einem Flugabsturz zu früh aus dem Leben geht. Oder wenn Kinder vor ihren Eltern sterben.

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Von der DGHS erfährt er, dass derzeit viele Menschen wegen eines ärztlich begleiteten Freitods anfragen. Im Januar will der Bundestag erneut über ein Gesetz diskutieren, das lässt die Nachfrage steigen. Bruno Weiß sagt, die DGHS will die Leute ja nicht umbringen. „Die schauen sich jeden Fall ganz genau an, da kann nicht jeder kommen und sagen ,ich will nicht mehr’.“

Ein Termin zum Sterben

Bruno Weiß unterstützt seine Mutter mit einem Brief an die DGHS. Darin steht: „BITTE erlösen Sie mich in Kürze“. Körper und Geist seien verbraucht, sie sehe keinen Sinn mehr darin, sich weiter durch die Tage, zwischen Bett und Sofa wechselnd, zu quälen. „Ich bin mit mir und meiner Entscheidung im Reinen“, heißt es weiter. Neben dem Brief schickt die Familie die Krankengeschichte von Dora Weiß an die DGHS und einen Mitgliedsantrag für den Verein.

Im Frühsommer verschlechtert sich der gesundheitliche Zustand von Dora Weiß. Die Familie fühlt sich in ihrem Beschluss bestätigt. Im August kommt die Nachricht, dass der Antrag angenommen sei und ein Mitglied der DGHS zu einem Besuch vorbeikomme. Anfang September ist es so weit, Ursula Bonnekoh kündigt ihren Besuch an. Bonnekoh ist Mitglied im Vorstand der DGHS, sie spricht mit Dora Weiß, die sagt: „Ich kann nicht länger warten.“ Es wird ein Termin vereinbart. „Das ist leider das Krasse dabei, dass man einen Termin zum Sterben machen muss“, sagt Bruno Weiß. Bei seiner Mutter wird es ein Tag Ende September.

"Es war alles gesagt"

Die Wochen gehen dahin. Die engsten Freunde werden in den Plan eingeweiht.

Sterbehilfe ist in der Gesellschaft noch immer ein Tabuthema. © Jens Kalaene/dpa

Dann kommt der Vorabend des Todestages. Der Arzt, der für die DGHS die Freitodbegleitung vornimmt, hat sich angekündigt. Er soll um 18 Uhr da sein. Doch er verspätet sich. Baustellen. Dora Weiß wird nervös, doch Bruno Weiß sagt: „Der kommt schon.“ Um halb acht ist er da. Er erklärt, was am nächsten Morgen passieren wird, dann geht er wieder. Bruno Weiß bestellt für sich und seine Mutter Takeaway beim Asiaten, das hätten sie öfter am Wochenende gemacht. Dann gehen sie schlafen. Bruno Weiß hat von seiner Mutter längst Abschied genommen. „Wir haben in den Wochen davor viel Zeit miteinander verbracht, es war alles gesagt.“

Erst die Kochsalzlösung als Test

Um kurz vor zehn Uhr klingelt es an der Haustür, der Arzt und Ursula Bonnekoh stehen vor der Tür, sie muss als Zeugin dabei sein. Dora Weiß unterzeichnet Dokumente, dass sie den letzten Schritt aus freien Stücken geht. Dann legt sie sich in ihr Bett. Der Arzt setzt ihr eine Fusion und hängt zunächst eine Kochsalzlösung an den Tropf. Das ist ein Test, ob der Zugang funktioniert. Dora Weiß muss selbst an dem Rädchen drehen und so den Tropf an-stellen. „Dann haben sie meine Mutter gefragt, ob sie bereit sei, und sie hat ja gesagt“, sagt Bruno Weiß.

Der Beutel mit der Kochsalzlösung wird ab- und eine Ampulle mit einem Narkosemittel angehängt. Dora Weiß muss jetzt noch einmal an dem Rädchen drehen. Bruno Weiß legt sich neben seine Mutter ins Bett, hält ihre Hand. „Wir wünschen Ihnen ein gutes Rüberkommen“, sagen der Arzt und Ursula Bonnekoh. Dora Weiß verliert das Bewusstsein, dann setzt der Atem aus, wenig später hört das Herz auf zu schlagen.

"Meine Mutter hat sich erlöst"

Als seine Mutter nicht mehr atmet, verlässt Bruno Weiß das Zimmer. Der Arzt und Ursula Bonnekoh müssen bleiben, bis der Tod eingetreten ist. Dann rufen sie die Polizei. Die muss den Leichnam beschlagnahmen. Routine.

Inzwischen sind mehrere Wochen vergangen. Bruno Weiß sagt, er sei erleichtert. Erleichtert, dass es geklappt hat. „Wir haben auf dieser Reise unsere Mutter noch einmal ganz anders kennengelernt, die Stärke, mit der sie das durchgezogen hat, haben wir nicht erwartet.“ So hadere die Familie auch nicht mit der Entscheidung. Von Suizid will Bruno Weiß nicht reden, er sagt Freitodbegleitung. „Meine Mutter hat sich erlöst.“

Freie Autorin

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