Mannheim. „Ohne Freezone wäre ich vermutlich im Knast - vielleicht auch tot“, sagt der 22-Jährige, der sich „Mister Wolf“ nennt. Er gehört zu jenen jungen Menschen, die zunächst wegen Essen, Duschen und eines Schlafplatzes in die Anlaufstelle J 7,23 kamen, aber allmählich Vertrauen fassten und beschlossen, von der Straße wegzukommen, ihr Leben umzukrempeln. Meist ein schwieriger, nicht selten von Rückschlägen begleiteter Weg, weiß Leiterin Andrea Schulz. Sie ist seit 1997 dabei, und damit von Anfang an. Freezone feiert an diesem 16. Mai sein 25-jähriges Bestehen.
Hier gibt’s Hilfe
- Freezone mit Anlaufstelle in J 7, 23 öffnet die Tür für zwölf- bis 25-Jährige, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße haben oder von Obdachlosigkeit bedroht sind.
- Träger ist dasJohann-Peter-Peter-Heim/Evangelische Kinder- und Jugendhilfe . Stadt und Land gewähren Zuschüsse – aber nicht als Vollfinanzierung.
- Neben „Streetnight“ (Not-Übernachtungsplätze ) und „Straßenschule“ (jenseits der Schulpflicht) gibt es mit dem Verein Pow als jüngstes Projekt den „Esspunkt“. Der „Soulkitchen“-Bauwagen bietet am Alten Meßplatz mehr als ein gesundes warmes Essen.
- Kontakt: Freezone Straßenkids, J 7, 23, Telefon 0621/122 20 93 , info@freezone-mannheim.de.
Dass auch im reichen Deutschland Jugendliche auf der Straße leben, übersahen Sozialverwaltungen - weil nicht klassische Armutsverhältnisse, sondern familiäre Krisen, häufig verbunden mit Gewalt, Mädchen und Jungen zu Streunern machten. Erzieherteams evangelischer und katholischer Kinderheime entwickelten unterstützt von Wohlfahrtsverbänden ein niedrigschwelliges „Schlupfwinkel-Konzept“. Schon in der ersten Anlaufstelle U5,24 galt das Prinzip der Freiwilligkeit - aber mit Regeln: Keine Drogen, kein Dealen, kein Alkohol, keine Waffen, keine Gewalt - dafür Respekt vor anderen. Die Betriebswirtin und Heimerzieherin Andrea Schulz empfindet es als „märchenhaftes Wunder“, dass 2009 zwei Vertreterinnen der SWR-Aktion „Herzenssache“ das Gespräch suchten und aus dem Spendenfonds 250 000 Euro für ein „Traumhaus“ flossen. Die mit Eigenarbeit umgestaltete ehemalige Spedition ermöglichte ab 2011 Not-Übernachtungsplätze für volljährige junge Erwachsene. Außerdem startete 2010 die Straßenschule mit einem ersten Kurs, der auf sogenannte Schulfremdenprüfungen vorbereitet. „Manche sind überall rausgeflogen, haben die Schule schon Jahre zuvor nach der sechsten Klasse verlassen“, schildert Andrea Schulz. Eine zweite Chance nutzen auch junge Menschen mit derart schlechtem Abschlusszeugnis, dass damit kein Ausbildungsplatz offen steht.
Lehrerin Irina Zirulnik , die inzwischen zum Freezone-Team gehört und berufsbegleitend Sozialarbeit studiert, weiß, dass die meisten erst einmal lernen müssen, zu lernen, und ein schrittweise aufgebautes Vertrauen zu der individuell betreuenden Lehrkraft unerlässlich ist - „denn alle schleppen einen Rucksack mit Schicksalen“. Gleichwohl haben um die 70 ehemalige Lernverweigerer einen Abschluss geschafft, auch die Mittlere Reife.
Noch ist „Mister Wolf“ nicht soweit, sich konzentriert auf Unterricht einzulassen - „er hat aber schon viel erreicht“, kommentiert Andrea Schulz und ergänzt: „Manche unserer Leute haben Dinge erlebt, die niemand erleben sollte.“ Der 22-Jährige erzählt, dass er seit dem neunten Lebensjahr immer wieder von zuhause wie aus Heimen weggelaufen ist -„es brodelte in mir, ich war voller Aggressionen“. Dazu kamen Drogen. Die Angst, Schwäche zu zeigen, blockierte die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen. Freezone bietet neben Essen und Trinken nebst Freizeitangeboten, beispielsweise Billardspielen, auch anonyme Beratung. Schulz: „Bei uns wird nichts aufgedrängt und keine Akte geführt.“ Der Entwurzelte ohne Familienkontakt spürte, dass er trotz all seiner Probleme akzeptiert wurde. „Andrea hörte mir zu“, sie habe ihn aber auch immer wieder auf den Boden der Realität gebracht. „Viel Herz, wenn nötig auch ein Hinterntritt - im übertragenen Sinn, versteht sich“, umschreibt die Freezone-Leiterin das pädagogische Konzept.
„Mister Wolf“ musste nicht nur mühsam lernen, Struktur in seinen Tag zu bringen, ein Praktikum durchzuziehen, sondern sich auch zu öffnen. Anfänglich habe er die ihm vermittelte Psychologin belogen. Erst im zweiten Anlauf gelingt ihm, über bis heute belastende Erlebnisse zu sprechen. Er trainiert auch, nicht mehr sofort zu zuschlagen, wenn er sich provoziert fühlt. Schulz: „Unlängst hat er sich in einer schwierigen Situation rumgedreht und ist gegangen.“
Dank an die Unterstützer
In 25 Jahren kam die Freezone-Leiterin zu der Erkenntnis: „Allen kann man nicht helfen - aber sehr vielen.“ Bei mehr als Dreiviertel der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sei gelungen, etwas in ihrem Leben zu bewegen - bis hin zur kompletten Eigenständigkeit. Ohne „die vielen, vielen Unterstützer“ wäre die Erfolgsgeschichte nicht möglich gewesen, ist sie überzeugt. Denn Spenden stopfen Löcher in der Finanzierung. Und jene kooperierenden Firmenchefs und Handwerker, die immer wieder eine Ausbildung ermöglichen, seien mit Gold nicht aufzuwiegen.
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