Mannheim. Ein Dienstag Ende September, am Eingang des Luisenparks am Fernmeldeturm in Mannheim. Menschen reihen sich in die Schlange vor dem Kassenhäuschen ein, andere zücken ihre Jahreskarten, passieren das Drehkreuz. Ein ganz normaler Tag – und doch ist hier seit einigen Monaten etwas anders.
Hinter der Glasscheibe des Kassenhäuschens sitzt eine der Kassiererinnen. Vielleicht lohnt es sich, sie nach der Frau zu fragen, die früher hier gelebt haben soll. Sie spricht ins Mikro, „einen Moment bitte“, sagt sie und tritt dann ins Freie. Sie spricht schnell und lacht oft, „so sind wir Pfälzer halt“, sagt sie. Die Kassiererin deutet mit dem Kopf in Richtung der beiden Bänke vor dem Fernmeldeturm. „Dort saß sie immer.“
„Sie“ ist eine Frau, die Anfang des Jahres als „Frau ohne Gedächtnis“ Schlagzeilen machte. Ende Januar veröffentlichte die Polizei einen Aufruf, der um einen Einsatz im November in der Augustaanalage in der Innenstadt kreiste. Dort trafen die Polizisten auf eine Frau, verwirrt, hilflos, ohne Ausweispapiere. Die Frau sagte ihnen, sie heiße womöglich Diana Müller, vielleicht auch Diane. Weiter sagte sie nichts. Weitere Fragen danach, wer sie ist und woher sie kommt, blieben unbeantwortet. Den Beamten fiel ihr fränkischer Dialekt auf. Mit einem Foto bat die Polizei die Menschen in Mannheim um ihre Mithilfe. Wer kennt die Frau, wer kann dabei helfen, sie zu identifizieren?
Polizei bat Bevölkerung um Mithilfe bei der Identifizierung
In den sozialen Medien postete die Polizei den Aufruf, darunter finden sich bis heute Kommentare von Menschen, die die Frau wiedererkannten. Einige zeichneten die „Tour“ der Frau durch die Stadt nach – offenbar lebte sie als Obdachlose auf der Straße. Andere erinnerten sich an das Fahrrad, mit dem die Frau immer unterwegs war.
Alles, was sie hatte, hing in Beutel und Tüten verpackt, an ihrem Rad, das sagt auch die Kassiererin am Luisenpark. Auf den Bänken vor dem Fernmeldeturm wusch sie sich. Sie aß dort und plauderte mit den Besuchern des Parks. Wenn die Mitarbeiter des Parks sauber machten, dann halfen sie ihr, die Habseligkeiten zusammenzupacken. Sobald sie fertig waren, konnte die Frau wieder auf einer ihrer Bänke Platz nehmen. Wenn es trocken war, saß sie auf der vorderen, wenn es regnete, weiter hinten. Und wenn vor dem Fernmeldeturm viel los war, dann zog sie sich manchmal ganz zurück.
„Ich arbeite seit zwei Jahren hier, da war sie schon da“, sagt die Kassiererin. Ihren Kolleginnen, denen sei die Frau schon viel länger bekannt. Die Kassiererin holt weit aus, spricht über die vielen Menschen, die sich um die Frau kümmerten. Es gab Besucher des Parks, deren Aufenthalt auf dem Parkgelände mit einem Gespräch mit der Frau begann. Dann habe es noch andere gegeben, vor allem Menschen aus der Nachbarschaft, die die Frau mit Essen versorgten, sagt die Kassiererin. Bis heute würden die Leute nach der Frau fragen.
Doch es scheint niemanden zu geben, der weiß, wie sie heißt und ihre Geschichte kennt. Sie selbst offenbar auch nicht. Bis heute konnte die Identität der Frau laut Polizei nicht eindeutig geklärt werden. Wie kann das passieren?
Extremer Stress oder schwere Traumata als mögliche Auslöser
Es gibt diverse Ursachen, die zu verschiedenen Varianten des Gedächtnisverlusts führen können: Schädel-Hirn-Traumata, Schlaganfälle, Entzündungen des Gehirns oder auch ein traumatisches Erlebnis. Hans Markowitsch ist emeritierter Professor für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld, er hat in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Menschen untersucht, die in Alltagssituationen aufgefunden wurden und nicht mehr wussten, wer sie sind. Meist war ihnen ihr autobiografisches Gedächtnis abhandengekommen. Sie konnten weiterhin lesen, schreiben, rechnen und doch fehlten ihnen Erinnerungen an ganze Lebensphasen, mitunter sogar an ihr komplettes Leben. Die Diagnose lautete in den meisten dieser Fälle: dissoziative Amnesie. Die Ursachen für die psychische Gedächtnisstörung waren vorwiegend extremer Stress oder schwere Traumata.
„Von den rund 100 Patienten, die ich untersucht habe, haben nur drei oder vier ihr Gedächtnis wiedererlangt, wobei das sehr schwere Fälle waren“, sagt Markowitsch. Am besten stünden die Chancen bei jüngeren Menschen, die schnell und gezielt behandelt würden. Zu den Behandlungsmethoden zählen etwa bestimmte Formen der Verhaltenstherapie oder Hypnose, so der Experte.
Vielen Patienten mit dem Krankheitsbild falle es schwer, Hilfe anzunehmen. Markowitsch hat häufig beobachtet, dass diese Menschen in einem Dämmerzustand feststecken, sich von Angehörigen ab- und manchmal auch Neuem zuwenden. Mehrheitlich sind Betroffene auf Hilfe angewiesen, nach Aufenthalten in psychiatrischen Krankenhäusern kümmern sich Angehörige – wenn diese ausfindig gemacht werden können. Ist dies nicht der Fall, werden die Patienten häufig in betreuten Wohneinrichtungen untergebracht.
Was verlieren wir, wenn uns das Gedächtnis abhandenkommt? Alles, könnte man vereinfacht sagen. Und differenzierter: Wir verlieren unsere Vergangenheit, unsere Prägungen, unseren Platz in der Welt und auch die Zukunft, die wir geplant haben. Belastende und wunderschöne Erinnerungen verschwinden gleichermaßen.
2007 gab es in der Region einen Fall, der auf den ersten Blick ähnlich anmutet. Damals irrte ein Mann am Hauptbahnhof in Mannheim umher, er sprach Englisch und nannte sich Karl. An sein Leben konnte er sich nicht erinnern, niemand vermisste oder erkannte ihn. Über ein Jahr später gelang den Behörden ein Durchbruch, sie identifizierten „Karl“ als Norman McMullan aus Edinburgh in Schottland. Medienberichten zufolge litt er allerdings an einer paranoiden Schizophrenie.
Familie einer vermissten Postbotin soll sich bei der Mannheimer Polizei gemeldet haben
Nach Angaben der Polizei wird die Frau im aktuellen Fall fachlich betreut, ihr gehe es den Umständen entsprechend gut, schreibt ein Sprecher auf Anfrage dieser Redaktion im Sommer. Ungefähr zur gleichen Zeit veröffentlicht jemand einen neuen Post in den sozialen Medien, in dem die Frau aus Mannheim erwähnt wird. Auf einer Vermisstenseite.
Seit 2013 suchen Angehörige der Postbotin Heidi Dannhäuser nach ihr. Vor zwölf Jahren verschwand die 49-Jährige aus Nürnberg-Fischbach nach dem Joggen. „Viele haben uns auf die Frau in Mannheim hingewiesen, die ohne Identität und Erinnerungen angetroffen wurde“, heißt es in dem Post. Und weiter: Das geschätzte Alter der Frau – 55 bis 70 Jahre – und ihr fränkischer Dialekt, da sei ihnen das Herz in die Hose gerutscht. Die Bilder der Frau hätten sie ratlos zurückgelassen. „Also ist man unserer Bitte nachgekommen, dies genau zu überprüfen. Leider ist es nicht unsere Heidi“, schreiben die Verfasser des Beitrags. Unterschrieben ist er mit Heidis Familie.
Eine Anfrage dieser Redaktion an die Betreiber der Vermisstenseite bleibt unbeantwortet, ein Sprecher der Mannheimer Polizei wollte einen DNA-Test weder bestätigen noch dementieren.
Eigentlich wollte diese Redaktion der Frau ohne Gedächtnis einen Brief schreiben und um ein Treffen bitten. Die Mannheimer Polizei hat uns gebeten, dies nicht zu tun. Dieser Bitte sind wir nachgekommen, weil uns keine genauen Informationen über den Gesundheitszustand der Frau vorlagen und wir ihre Persönlichkeitsrechte nicht verletzen wollte. So fehlt in diesem Text die wichtigste Perspektive. Und er bleibt eine wesentliche Antwort schuldig: Wie geht es einem Menschen, der alles, was er bis dahin war, verloren hat?
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