Prävention

Fetales Alkoholsyndrom: Anton war in Mamas Bauch betrunken

Anton ist krank, weil seine Mutter in der Schwangerschaft getrunken hat. Fetales Alkoholsyndrom nennen das Ärzte. Eine Pflegemutter berichtet über den Alltag mit Wutanfällen und der Suche nach Hilfe

Von 
Waltraud Kirsch-Mayer
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Wenn Frauen in der Schwangerschaft trinken, kann das Kinder erheblich schädigen. © Getty Images/iStockphoto

Mannheim. FASD – diese Abkürzung sagt den wenigsten Menschen etwas. Und dennoch ist sie mit unzähligen Schicksalen verknüpft, die erst die Kindheit und dann das gesamte Leben prägen. Die vier Buchstaben stehen für „Fetal Alcohol Spectrum Disorder“ und meinen Entwicklungsstörungen, ja schwerste Beeinträchtigungen als Folge von Alkoholkonsum während der Schwangerschaft. Zu dem Krankheitsbild und seinen Auswirkungen bietet „APFEL“ , der Verein für Adoptiv - und Pflegeeltern, individuelle Beratung sowie Aufklärungsseminare. Eine Pflegemutter erklärt sich bereit, über den herausfordernden Alltag mit einem betroffenen Jungen zu sprechen.

Meine leibliche Mutter muss mich liebgehabt haben, sonst gäbe es mich nicht. Aber sie war krank. Ich war in ihrem Bauch mit ihr betrunken.
Anton

„Meine leibliche Mutter muss mich liebgehabt haben, sonst gäbe es mich nicht. Aber sie war krank. Ich war in ihrem Bauch mit ihr betrunken. Nachdem ich auf der Welt war, konnten sich meine Eltern nicht um mich kümmern, sie konnten sich kaum um sich selbst kümmern.“ So beginnt die Geschichte von Anton (Name geändert), die seine Pflegefamilie aus der Perspektive des Buben aufgeschrieben hat. Acht Jahre liegt der Entschluss des Paares zurück, ein Kind aufzunehmen. Als nach einem Vorbereitungsseminar der Anruf des Jugendamts Rhein-Neckar kam, dass für den zweieinhalbjährigen Anton ein Zuhause gesucht werde, bekamen die künftigen Eltern die Heroinsucht der leiblichen Mutter mitgeteilt – „von Alkohol war aber nicht die Rede.“

Fetales Alkoholsyndrom: In Deutschland jährlich 10.000 neue Fälle

Martina Schneider, zertifizierte Fachkraft für das fetale Alkoholsyndrom, weiß, dass die bei Babys wie Kindern am wenigsten erkannte, geistige und körperliche Behinderung mannigfache Ausprägungen und Schweregrade haben kann. Der Verein APFEL widmet sich dem Problem auch deshalb, weil es Pflege- oder Adoptiveltern entlastet, wenn sie wissen, dass Auffälligkeiten ihrer Sprösslinge, ob Wutausbrüche oder Ängste, weder auf Charakterschwächen noch Erziehungsfehler, sondern auf die Folgen einer alkoholbedingten Hirnschädigung im Mutterleib zurückgehen.

Der Verein APFEL

  • Der 2006 gegründete Verein Adoptiv- und Pflegefamilien Mannheim, kurz APFEL, mit Domizil in Neckarau (Rheingoldstraße 14 , Telefon 0621/ 87 55 79 75) versteht sich als unabhängige Anlauflaufstelle für Infos und Erfahrungsaustausch.
  • Der Verein bietet mit dem Programm „STÄRKE“ des Landes Baden-Württemberg eine Plattform, wenn Kinder von den Folgen eines fetalen Alkoholsyndroms betroffen sind.
  • Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft kann beim ungeborenen Baby irreversible Schäden verursachen, die Störungen beim Wachstum, bei der emotionalen wie sozialen Entwicklung auslösen und häufig Intelligenz sowie Lernfähigkeit mindern.
  • Inzwischen gibt es Leitlinien für eine spezielle Diagnostik, die bei Verdacht möglichst früh erfolgen sollte, damit gezielt gefördert und im Familienalltag unterstützt werden kann. 

Nach Schätzungen der Bundesdrogenbeauftragten kommen in Deutschland jährlich um die 10 000 Babys zur Welt, die unter einer der vielen Formen von FASD leiden. Außerdem offenbaren Studien: Bei Müttern, die in Osteuropa ihr Kind zur Adoption ins westliche Ausland freigeben, ist der Anteil von alkoholkranken Frauen besonders hoch.

Dass mögliche Folgen für das Kind in ärztlichen Gutachten der Heimatländer oftmals verschwiegen werden, ist für die APFEL-Vorsitzende Christine Kübler ein offenes Geheimnis. „Russisch Roulette: Das Spiel mit dem Glück einer Familie“– diesen Titel hat ein deutsches Paar seinem Erfahrungsbericht gegeben, der über Organisationen berichtet, die Adoptionen zum einträglichen Geschäftsmodell gemacht haben und deshalb auch Kinder von Trinkerinnen vermitteln.

Folgen des fetalen Alkoholsymdroms: Anton kämpft mit der Kita

Bei Anton hat die Oma dafür gesorgt, dass ihr Enkel noch vor dem Drogentod der Mutter vom Jugendamt in Obhut genommen und an liebevolle Pflegeeltern vermittelt wird. Als der schmächtige Junge in die Kita kommt, fehlen ihm noch die Worte, um sich verständlich machen. Er kratzt, schubst und beißt Kinder, wenn ihm etwas nicht passt. Logopädische Therapie verbessert zwar sein Sprechen, ändert aber nur wenig an der Unfähigkeit, andere an sich heranzulassen. Erst als sich eine Sonderpädagogin ausschließlich um Anton kümmert, beginnt er, Kita-Abläufe zu akzeptieren und bei Konfliktsituationen besser mit seinem Frust klar zu kommen.

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Von
Stephan Alfter
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Anton braucht feste Strukturen und Rituale. Pflegemutter Franziska Sommer (Name geändert) erzählt, dass sie anfänglich um 4 Uhr aufgestanden ist, damit genügend Zeit blieb, ihn auf die Kita vorzubereiten. In der Geschichte wird geschildert: „Erstmal muss ich mit Mama kuscheln. Sie streichelt mir über den Rücken, flüstert mir leise schöne Dinge ins Ohr, erzählt mir über den kommenden Tag, worauf wir uns freuen, was wir Schönes machen. Irgendwann stehe ich auf und will spielen. Damit ich überhaupt davon loskomme, spielen wir immer gemeinsam am Esstisch, damit ich auch mein Müsli essen kann. Ich habe eine bunte Uhr mit Symbolen gebastelt, und da sehe ich, wann wir uns anziehen müssen. Das dauert auch nochmal.“

Durchhaltevermögen bei den Eltern gefragt

Die Eltern brauchen nicht nur Geduld, auch Nerven und Durchhaltevermögen. „Manchmal kamen wir schon an unsere Grenzen“, sagt Franziska Sommer. Beispielsweise, als Anton nach langem Tragen von Windeln damit begonnen hat, mit dem „Kacka“, der in die Hose ging, erst zu spielen, dann an Wände wie Schränke zu schmieren und schließlich hinter Regalen zu verstecken, um nicht ertappt zu werden. Auch wenn sich die Situation nach vielen Therapien entspannt hat, ist unklar, ob es dabei bleibt.

In der Schule steht Anton stundenweise ein Integrationshelfer zu Seite. „Dafür mussten wir mächtig kämpfen.“ Der Abc-Schütze überrascht mit erstaunlichen Leistungen – guten Noten im Zeugnis, zudem den meisten Lesepunkten der Klasse, weil er Bücher geradezu verschlingt. Außerdem begeistert ihn, Schach zu spielen. Bei seinen Gefühlsausbrüchen helfen oftmals psychologische Kniffe wie der Sitzsack in der „Wutecke“. Aber nach wie vor macht es Anton sich und anderen mit seinen emotionalen Achterbahnfahrten nicht leicht. „Einstige Freunde haben sich zurückgezogen“, erzählt Sommer. Sie erklärt, warum sie sich zu einem Gespräch bereiterklärt hat: „Weil kaum jemand weiß, warum Kinder mit FASD so sind, wie sie sind.“

Freie Autorin

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