Mannheim. Wer dabei war, kann diese Anspannung, diese hoch aufgeheizte Stimmung, diesen spürbaren gewaltbereiten Fanatismus nie vergessen: Vor 30 Jahren erlebt Mannheim nach Krawallen kurdischer Demonstranten den größten Polizeieinsatz in seiner Geschichte. Als ein Kurde einem Polizeibeamten seine Dienstwaffe entreißt, macht „MM“-Pressefotografin Gudrun Keese ein Bild, das später preisgekrönt wird.
Zwei junge Frauen, 23 und 28 Jahre alt, sind der Auslöser. Aus Protest gegen das 1993 erlassene Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Deutschland, die als Terrororganisation eingestuft wird, übergießen sie sich im März 1994 auf der Maulbeerinsel mit Benzin und zünden sich an – beide sterben.
Die Selbstverbrennung zum kurdischen Neujahrsfest Newroz wird zum Fanal. Sie löst über mehrere Tage gehende, oft gewalttätig verlaufende und als „Trauermärsche“ bezeichnende Demonstrationen von Kurden in Mannheim aus. Das zieht sich bis in den September.
3000 Beamte sind im Einsatz – so viele wie noch nie
Bereits im März, kurz nach der Selbstverbrennung, soll es eine Großdemonstration in Mannheim geben. Sie wird von der Stadt untersagt, weil es anderswo schon zu Ausschreitungen gekommen ist. Das bietet die Handhabe für bundesweite Kontrollen im Vorfeld. Allein in Nordrhein-Westfalen werden 147 Kontrollstellen eingerichtet, Personen durchsucht und gestoppt. So schafft es die Polizei, dass statt der befürchteten 50 000 Kurden „nur“ 10 000 nach Mannheim fahren.
Auch hier sind alle Einfallstraßen weiträumig abgeriegelt. 40 Personen werden festgenommen, 73 Bussen die Weiterfahrt verwehrt, 252 Messer, Macheten, Schlag- und Schreckschusswaffen, Benzinkanister und Fahnen mit dem Symbol der verbotenen PKK beschlagnahmt. Zugleich verteilt die Polizei Flugblätter, die mehrsprachig um Verständnis für die Kontrollen bitten, das Verbot erläutern und den Weg zum Maimarktgelände weisen. Dort gestatten Stadt und Polizei nach langen Verhandlungen eine Trauerkundgebung für die jungen Frauen, an der rund 10 000 Kurden teilnehmen.
In der Innenstadt herrscht dagegen Belagerungszustand. Kleinere Gruppen von Demonstranten werden, sobald sie sich formieren, aufgelöst. Es kommt immer wieder zu teils heftigen Rangeleien. Die Polizei ist mit massiven Kräften im Einsatz: 3000 Beamte – so viele wie noch nie. Unterstützung kommt nicht nur aus anderen Bundesländern. Allein sieben Hundertschaften, aus Bayern und dem Rheinland, schickt der Bundesgrenzschutz (heute Bundespolizei). Deren Angehörige übernachten teilweise in der – fast geräumten – Ludwig-Frank-Kaserne.
Polizei setzt Wasserwerfer ein
Mit dabei sind Wasserwerfer, eigene Sanitätsfahrzeuge, Lautsprecherwagen, Video-Dokumentationstrupps. Einige Beamten tragen Feuerlöscher auf dem Rücken, um weitere Selbstverbrennungen zu verhindern. Auch Feuerwehr und die Rettungsdienste sind personell verstärkt. Als am Ende alles einigermaßen gut ausgeht, begrüßt der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) das als „polizeilichen und gesellschaftlichen Erfolg“.
Der hält aber nicht lange an, denn im September geht es weiter. Die Stadt verbietet zwar einen Trauermarsch und hat damit auch Erfolg vor dem Verwaltungsgerichtshof (VGH). Dennoch formieren sich Kurden auf dem Paradeplatz, wo ein starkes Polizeiaufgebot sie einkreist. Daraufhin werfen die Demonstranten mit Brandsätzen gegen die Polizisten und übergießen einen Beamten mit Benzin. Der Versuch, ihn in Brand zu setzen, scheitert indes.
Mehrfach greifen die Beamten gegen die um sich schlagenden und tretenden Männer zum Schlagstock. Als die Kurden am Wasserturm Seifenlauge ausschütten, damit die Polizeipferde ausrutschen, und eine Absperrung durchbrechen wollen, werden Wasserwerfer eingesetzt – zum ersten Mal seit Jahrzehnten in Mannheim. Am Abend meldet die Polizei 330 Festnahmen.
Kurdische Frauen besetzen das Rathaus
Am nächsten Tag spitzt sich die Lage noch mehr zu – trotz erneut massivem Polizeiaufgebot. Etwa 70 kurdische Frauen besetzen das Rathaus in E 5 und verlangen, dass die Stadt die Demonstrationsverbote aufhebt. Es kommt zu hitzigen, kontroversen Diskussionen in den Gängen des Rathauses zwischen den fanatisierten Frauen und Vertretern der Stadtverwaltung. Eine Frau bespritzt sich mit brennbarer Flüssigkeit, will sich anzünden – was gerade noch verhindert werden kann. Die Polizei trägt die Frauen aus dem Rathaus.
Noch heikler aber ist die Situation vor dem Rathaus, wo sich kurdische Demonstranten und ein Großaufgebot an Polizei gegenüberstehen. Dabei kommt es zum Gerangel zwischen Polizisten und Kurden, als die Beamten die Kundgebung auflösen wollen. Ein 20-jähriger Demonstrant aus Mainz stürzt von hinten auf einen Polizisten zu, entreißt ihm die Schusswaffe aus dem Holster, zielt auf einen am Boden liegenden Polizisten – der Schuss auf ihn wird gerade noch per Hieb mit dem Schlagstock verhindert. Die Kugel trifft stattdessen einen anderen Kurden unterhalb der Kniekehle.Der „MM“-Pressefotografin Gudrun Keese gelingt es, diesen dramatischen Moment vom 27. September 1994 im Bild festzuhalten. Gudrun Keese erhielt für dieses Bild den von der Zeitschrift „Emma“ und der Firma Leica ausgeschriebenen Fotografinnen-Preis 1995/96. „Sie hatte keine Angst, hat nicht gezögert, sich einzumischen, und den richtigen Moment erwischt“, so die Jury. 2022 ist Gudrun Keese (kleines Bild) im Alter von 87 Jahren verstorben.
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