Mentale Gesundheit

Eltern berichten über Suizidversuche ihrer Kinder

Wenn Kinder oder junge Erwachsene nicht mehr leben möchten, stellt das ihre Angehörigen vor große Belastungen. Nicht zuletzt die Schuldfrage schmerzt, wie Susanne und Peter schildern

Von 
Stefanie Ball
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Das Origami-Falten war Philipps einziges Hobby in seiner Jugend. Seine Eltern kommen lange nur schwer an ihn heran. © Privat

Mannheim. Als Anna nach ihrem ersten Suizidversuch die Klinik nach zwei Tagen verlässt, unterschreibt sie einen Vertrag. Darin steht, dass sie das nicht wieder tun wird. Das Mädchen ist 14 Jahre alt. Wenige Monate später versucht sie erneut, sich das Leben zu nehmen. Diesmal schluckt sie 80 Tabletten, es sind ihre Antidepressiva, die sie gesammelt hat. Wenn ihr Bruder zehn Minuten später nach Hause gekommen wäre, wäre sie heute vielleicht nicht mehr am Leben.

Es folgen Klinikaufenthalte und ambulante Therapiestunden. Für die Eltern ist es die Hölle. „Bei der kleinsten Unregelmäßigkeit, sie kam später nach Hause als vereinbart oder ging nicht an ihr Handy, schrillten die Alarmglocken“, erzählt Peter, der Vater. Peter heißt eigentlich anders, sein Name und die Namen aller weiteren Personen in dieser Geschichte wurden geändert. Nun ist die Tochter 20, sie hat die Schule abgeschlossen und eine Ausbildung begonnen. Die Lage habe sich entspannt, sagt der Vater. Doch wenn er und seine Frau in den Urlaub fahren, will er jeden Tag eine Nachricht von seiner Tochter. „Ein Daumen hoch per WhatsApp reicht schon.“

Die Eltern erfahren erst später, dass ihre Tochter den Suizid in einer Chatgruppe Mitschülern angekündigt hat. Eine habe geschrieben: „Das machst du ja sowieso nicht.“ Ein anderer meint: „Dann mache ich mit.“ Niemand vertraut sich einer Lehrkraft oder Eltern an, das hatte die Gruppe so vereinbart: Nichts dürfe nach draußen dringen. Daran halten sich alle - bis auf ein Mädchen. Als Anna nach ihrem ersten Suizidversuch nicht in der Schule erscheint, meldet sie sich bei den Eltern. „Sie sagte, sie mache sich Sorgen um Anna, ob alles okay sei.“ Vom Suizidversuch wusste sie noch nicht.

Schule und Eltern fällt Not des Mädchens zunächst nicht auf

Peter sagt, er wolle der Schule keinen Vorwurf machen. Aber im Unterricht werde über Drogen gesprochen, Alkohol und Rauchen, nicht aber über mentale Gesundheit. Niemandem scheint aufzufallen, in welcher Not sich das Mädchen befindet. Auch den Eltern nicht. „Anna hatte damals zu vielen Dingen eine negative Einstellung, aber sie war ja auch mitten in der Pubertät, da ist das normal, dachten wir.“ Beim ersten Suizidversuch hinterlässt Anna einen Brief. Es bricht Peter das Herz, als er ihn liest. Zum ersten Mal erkennt er, wie sehr seine Tochter gelitten hat, wie tief ihr Schmerz war. Sie schreibt von den Menschen, die schlecht seien, weil sie die Umwelt zerstörten und Kriege anzettelten. Da sie selbst ein Mensch sei, sei es besser, sie sei weg.

Infos und Hilfsangebote

 

  • Jedes Jahr nehmen sich rund 10 000 Menschen in Deutschland das Leben. Die Zahl der Suizidtoten ist laut der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention ungefähr dreimal so hoch wie die der Verkehrstoten. Gleichzeitig schätzen Experten, dass auf einen Suizid statistisch gesehen zehn bis 20 Suizidversuche kommen.
  • Im Vergleich zu den Jahrzehnten zuvor haben sich die Suizidraten allerdings deutlich verringert. Die Höchstzahl lag 1981 bei mehr als 18 800 Suiziden.
  • Das Suizidrisiko steigt mit zunehmendem Lebensalter an, in der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen gehört Suizid weltweit zur vierthäufigsten Todesursache (nach Autounfällen, Tuberkulose, Gewalttaten). Grundsätzlich begehen mehr Männer (70 Prozent) als Frauen Selbstmord.
  • Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass jeder Suizidtote fünf bis sieben Angehörige hinterlässt. Dazu kommen Personen, die nicht unmittelbar zur Familie gehören, die aber auch trauern und in persönliche Krisen gestürzt werden können, wie zum Beispiel Schulkameraden, Arbeitskollegen, Nachbarn, Vereinsfreunde.
  • Telefonseelsorge (kostenlos und anonym): 0800/1 11 02 22 (katholisch) oder 0800/1 11 01 11 (evangelisch)
  • Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche: 116 111
  • Nationale Kontakt- und Informationsstelle (inklusive Datenbank zur Suche nach Institutionen und Selbsthilfegruppen): nakos.de
  • Online-Beratung speziell für Jugendliche und junge Erwachsene bis 21 Jahre in akuten Krisen und bei Suizidgefährdung: youth-life-line.de
  • Internetseelsorge (katholisch): internetseelsorge.de
  • Angehörige um Suizid e.V. Agus: agus-selbsthilfe.de (mit zahlreichen Ortsgruppen)
  • Bundesweit nur zweimal, darunter in Heidelberg: Selbsthilfegruppe für Angehörige nach Suizidversuch. Kontakt über Website angehoerige-nach-suizidversuch-heidelberg.de sba

10 119 Menschen sind im Jahr 2022 in Deutschland durch Suizid gestorben - fast 28 Personen pro Tag. Das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle, Mord, Totschlag und Drogen zusammen. Noch häufiger als vollendete Suizide sind Suizidversuche - Schätzungen gehen von mindestens 100 000 Suizidversuchen pro Jahr aus.

Mit einer nationalen Strategie will die Bundesregierung nun die Suizidprävention stärken: Menschen sollen für das Thema sensibilisiert werden, psychische Erkrankungen sowie Suchterkrankungen entstigmatisiert und Beratungs- und Unterstützungsangebote ausgebaut und überhaupt bekannt gemacht werden. „Suizid ist in den allermeisten Fällen eine vermeidbare Todesursache“, heißt es in der Präventionsstrategie. Hinter Suizidgedanken stehe oft nicht das Gefühl „Ich will nicht mehr leben“, sondern eher „Ich will so nicht mehr leben“.

Mutter berichtet von zäher Zeit, in der ihrem Sohn der Antrieb fehlte

Als Susannes Sohn nach dem Abitur ein Jahr nach Australien geht, atmet die Familie auf. „Er war glücklich dort“, sagt die Mutter. Die Zeit davor sei nicht unglücklich gewesen, aber sie war zäh, Philipp sei weder ein besonders guter, noch ein besonders schlechter Schüler gewesen. „Ihm fehlte der Antrieb, er hat sich für nichts interessiert“, sagt Susanne. Er hatte Freunde, aber nicht viele, er ging zur Schule, aber nicht gerne, ein Hobby hatte er nicht. Außer Origami: Philipp faltet Lebewesen in größter Detailtreue.

Das Leben sei ihm fremd geblieben, alles Bürokratische musste die Mutter erledigen, das Auslandsjahr, die anschließende Ausbildung, die er mit Ach und Krach geschafft habe. Danach sei der Absturz gekommen, einen Job habe er sich nicht suchen wollen, und als nach ein paar Monaten das Geld aufgebraucht gewesen sei, habe er vor der elterlichen Wohnungstür gestanden. Die Eltern lassen ihn wieder einziehen. Susanne ist längst klar, dass ihr Sohn Hilfe braucht. Doch der verweigert sich. Die Mutter kontaktiert die Hausärztin, die sagt: „Da können Sie nichts machen, Sie müssen warten, bis es knallt.“ Der Knall kommt.

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Eines Abends rastet Philipp aus und zerschlägt Mobiliar im gesamten Haus. Die Eltern weisen ihn aus der Wohnung, Philipp wird obdachlos, die Eltern verlieren den Kontakt. Bis eines Tages die Polizei anruft. Da hat Philipp einen ersten Suizidversuch hinter sich. Es beginnt eine Odyssee durch Kliniken und ambulante Behandlungen. Dass er psychisch schwer krank ist, will Philipp nicht einsehen. Den Eltern sind die Hände gebunden, Philipp ist längst volljährig, 24 Jahre alt. „Das ist ein Drama, das sind erwachsene Kinder, aber wenn die ihr Leben nicht packen, können die Eltern nichts tun.“ Irgendwann gelingt es Susanne, dass ihr Sohn eine Vorsorgevollmacht unterschreibt.

Seitdem nimmt sie die Dinge in die Hand. Susanne wird zur Expertin, ihr Wissen eignet sie sich selbst an, sie habe es sich mühsam zusammensuchen müssen. Ein Entlassungsgespräch aus der ersten Klinik beispielsweise musste sie sich erkämpfen. „Dabei wäre das der Anknüpfungspunkt, um Angehörige einzubeziehen“, sagt Susanne. Und zu klären, wie es weitergeht. Bis Philipp auf seine Medikamente eingestellt ist, vergehen Monate. Bis er eine geeignete Unterkunft gefunden hat, Jahre.

Mittlerweile gehe es ihm besser, sagt die Mutter. Philipp wohnt in einem sozialtherapeutischen Wohnheim, einmal in der Woche hätten sie Kontakt, persönlich oder übers Telefon. Unter den Ansprechpersonen in der Einrichtung seien mehrere Männer, das habe es für ihren Sohn erleichtert, sich zu öffnen. Die Sorge der Eltern um ihr Kind höre aber nicht auf. „Ich bin heute entspannter als noch vor zwei, drei Jahren, das Grundvertrauen aber ist verloren gegangen.“

Susanne weiß, dass sie aufpassen muss, selbst nicht auf der Strecke zu bleiben. Dass ihr Sohn auf die Beine kommt, hängt maßgeblich von ihr ab. Einmal im Jahr beantragt sie eine Kur für sich, lange geht sie trotz der Belastungen auch arbeiten. Überlebensinseln nennt sie das. „Manchmal habe ich mich gefragt, was mit psychisch Kranken ist, die kein familiäres Netz haben, das sie auffängt.“ Für ihren Sohn hätte sie sich gewünscht, dass er einen Mentor gehabt hätte, der ihn während der Jugendjahre begleitet. Jemand, der nicht Vater oder Mutter ist. „Von den Eltern wollen sich die Kinder gerade abgrenzen, die sprechen ja nicht mehr mit uns.“

Angehörige fragen sich, ob sie anders hätten reagieren müssen

Ein großes Thema für die Angehörigen ist die Frage nach der Schuld. Susanne ist wie Peter in einer Selbsthilfegruppe in Heidelberg für Angehörige nach versuchtem Suizid. Die Frage nach dem Warum quält dort viele: Haben sie als Eltern, Kinder, Schwester, Bruder etwas übersehen? Was ist schiefgelaufen? Peter erzählt dann immer von dem Gespräch, das seine Tochter mit einer Therapeutin in der Klinik hatte, in der sie ganz am Anfang teilstationär untergebracht war. Es fand nur wenige Wochen vor dem zweiten Suizidversuch statt. Als Peter der Therapeutin später erzählt, dass Anna versucht habe, sich erneut das Leben zunehmen, fällt sie aus allen Wolken. Sie sah Anna auf dem Weg der Besserung. „Die Betroffenen können gut schauspielern, das zu durchschauen fällt selbst Profis schwer.“ Am Tag des Suizidversuchs hatte Anna ihr Zimmer aufgeräumt, sich schick angezogen. „Es geht aufwärts“, glaubte Peter.

Auch Susanne sagt: „Ich kann mir nur immer wieder sagen: Ich habe keine Schuld bei mir und meinem Mann finden können.“ Philipp habe eine ältere Schwester, es habe nie Probleme gegeben, inzwischen sei ihre Tochter verheiratet, habe schon selbst Kinder. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb versucht Susanne, Positives aus ihrer Situation und dem Erlebten zu ziehen. „Mein Blick auf die Gesellschaft hat sich verändert.“ Ihre Definition von Normalität sei heute eine andere: „Es ist normal, psychisch zu erkranken, obdachlos zu werden, tief zu fallen, Krisen zu haben und sich dann Hilfe zu holen.“

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