Speyer. Nicht nur die Corona-Pandemie und ihre Maßnahmen haben den Menschen seelisch schwer zugesetzt. Auch der aktuelle Ukraine-Konflikt, die Angst vor einer Ausweitung des Krieges, die starke Teuerungsrate oder die Angst vor der Zukunft belasten die Menschen in der Region. Während Berufstätige ihre Probleme häufig verdrängen oder durch den Job abgelenkt sind, leiden einsame Menschen sehr darunter. Sie haben Niemanden, mit dem sie ihre Sorgen und Nöte besprechen können – der ihnen zuhört. Deshalb wenden diese Menschen sich häufig an die Telefonseelsorge. Dort wird das Team oft mit suizidalen Gedanken konfrontiert. Menschen sagen: „Ich kann nicht mehr oder ich will nicht mehr.“
Deshalb hat die Telefonseelsorge in Deutschland bereits 2020 den Krisenkompass entwickelt. Diese App wurde jetzt um viele zusätzliche Funktionen erweitert und soll Menschen mit suizidalen Gedanken helfen. Sie kann ganz einfach im App-Store jedes Smartphones heruntergeladen und installiert werden.
Krisenkompass: Diskrete Hilfe für Suizidgefährdete und Angehörige
Astrid Martin ist die katholische Leiterin der Telefonseelsorge Pfalz. Für sie ist wichtig, dass der Krisenkompass allen Betroffenen nicht nur schnelle Hilfe bietet, sondern auch Diskretion: „Das Besondere ist, dass er nur auf dem eigenen Handy liegt und nicht irgendwie kommuniziert. Also bleiben Daten auf ihrem Handy“, sagt sie. Und diese App ist nicht nur für Suizidgefährdete geeignet, sondern auch für deren Angehörige: „Der Krisenkompass hat vier Teile und wurde ursprünglich entwickelt für Selbstmordgefährdete. Aber auch für Menschen, die Leuten mit Suizidgedanken helfen wollen und für Hinterbliebene. Was jetzt neu dazu kommt als Update ist, dass besagte App ausgeweitet wurde auf Menschen mit relativ ‚normalen’ Krisen“, so Martin.
Die Idee zum Krisenkompass entstand in der Telefonseelsorge. Es gibt bundesweit 104 Stellen, die untereinander gut vernetzt sind. „In einer Arbeitsgruppe zur Ergänzung unseres Angebots entstand diese Idee, damit man Menschen in Krisen – auch gerade in suizidalen Krisen – etwas an die Hand geben kann, was nach dem Telefonat oder dem Chat bleibt“, erklärt Astrid Martin. „Und womit die Menschen sich selbst regulieren können und sich selbst ein Stück weit helfen können.“
Altersgruppen und Suizidgedanken: Wer ist betroffen?
Menschen, die Selbstmordgedanken haben, sind in der Regel mittleren Alters, oder auch im Rentenalter. „Die Hauptgruppe ist zwischen Mitte 50 und Mitte 70. Da haben wir jedes Jahr eine gleichbleibende Zahl von Suizidgedanken – die liegt bei etwa sieben Prozent. Akute Suizidalität sind zwischen ein und drei Prozent unserer Gespräche das Thema“, so Martin. „Aber was wir merken ist, dass in den letzten Jahren besonders durch die Corona-Krise im Chat die Anzahl zugenommen hat. Über den Chat erreichen wir viel mehr jüngere Menschen. Da haben wir überwiegend die Altersgruppe zwischen 19 und 30 Jahren. Auch da merken wir einen Anstieg.“
Gerade für jüngere Menschen, die täglich ihr Smartphone nutzen, ist der Krisenkompass eine sinnvolle Möglichkeit. Um Hilfe zu bekommen, die über die Gespräche mit der Telefonseelsorge hinausgehen. „Also es ist ein Versuch, weil in dieser App verschiedene Tools und Hilfsmöglichkeiten programmiert sind“, betont Astrid Martin. „Was ich sehr gerne mache: Wenn ich einen jungen Menschen im Chat habe und das Problem und die Gedanken besprochen habe, dann bin ich ja irgendwann weg. Der Chat endet irgendwann. Da frage ich nach: ‚Wir haben doch eine App, hast du dir die schon mal angeschaut? Hast du dir die schon mal runtergeladen? Da sind ganz viele Tools drin, die dir Kraft geben können, die dir helfen können in Krisensituationen.’“
Individuelle Anpassung: Musik und Notfallnummern im Krisenkompass
Die App kann auch individuell gefüllt werden mit Dingen, die den Menschen Freude bereiten, wie Musik oder Gedichten. „Du kannst dir deine eigenen Kraftquellen dort reinladen, einen Lieblingssong zum Beispiel“, empfiehlt Astrid Martin. Doch die neuen Funktionen im Krisenkompass gehen noch ein Stück weiter: „Bis zur Notfallnummer von Jemanden, wenn diese Gedanken ganz, ganz schlimm werden. Da besteht die Möglichkeit, diese Nummer in der App zu verknüpfen und denjenigen anzurufen. Es sind auch Tools drin zum Kraft schöpfen, sowohl Atemübungen als auch Traumreisen. Ein Fundus von Möglichkeiten ist in diese App programmiert.“
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Die App ist nicht nur für junge Menschen geeignet, sondern für alle, die ein Smartphone besitzen. Doch wie funktioniert der Krisenkompass genau, wie wird er angewendet? „Wenn Sie in diese App reingehen, dann sehen Sie vier verschiedene Möglichkeiten, die abgefragt werden: Ich bin ein Mensch in einer Krisensituation, ich bin suizidgefährdet, ich möchte anderen Menschen helfen oder ich bin Hinterbliebene. Da öffnen sich dann Felder.“
Die Bedienung ist einfach und überschaubar. „Wenn wir zum Beispiel auf das Feld klicken ‚Ich bin ein Mensch in einer Krise’, dann kann ich wählen zwischen ‚Selbstreflektion’ oder ‚Wissen stärken’. Letzteres, wenn ich selbst ein bisschen mehr darüber erfahren will, was gerade mit mir los ist, also was überhaupt eine psychische Krise ist“, erklärt Astrid Martin. „Die psychische Krise ist ein Ausnahmezustand, in dem wir bewährte Bewältigungsstrategien anbieten. Aber auch Coaching-Elemente, um sich selbst zu stabilisieren. Dann kann man wählen zwischen ‚Krisensituation meistern’, ‚Kraftquellen aufbauen’, ‚Anleitung zum Kraftschöpfen’ und ‚meine inneren Stimmungen beobachten’. Es gibt eine Art Selbsttest, den ich durchführen kann, bei dem mir Fragen gestellt werden, an denen ich sehen kann: Wie weit bin ich in meiner Krise und was könnte mir helfen?“
Stimmungsbarometer: Veränderungen der persönlichen Verfassung erkennen
Neu im Update des Krisenkompass ist das Stimmungsbarometer. Dieses soll erkennen, ob sich die persönliche Verfassung verändert – in die eine oder andere Richtung. „Bei dem Stimmungsbarometer können Nutzer über einen längeren Zeitraum ihre Stimmung beobachten und eintragen. Sie können dann selbst feststellen, wenn sich etwas verändert. Egal in welche Richtung. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf Fragen richte wie ‚Was ist denn besser geworden?’ oder ‚Wo fühle ich mich denn gestärkter?’, dann funktioniert es ganz gut, dass mir das in den Blick rückt, was mir sonst im Alltag vielleicht wegrutscht. Vielleicht habe ich zwei oder drei Situationen am Tag, in denen ich sagen kann, da habe ich mich besser gefühlt. Nur muss ich meine Aufmerksamkeit gezielt darauf lenken und versuchen, mehr davon zu erleben. Mit einem Stimmungsbarometer kann das besser gelingen.“
Der Krisenkompass ist kostenlos in jedem App-Store zu finden. Mittlerweile wurde die App mehr als 200 000 Mal heruntergeladen. Weitere Informationen zur App aber auch zum Thema Suizidgefahr gibt es auf www.telefonseelsorge.de.
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