Mannheim. Er sei ein Genusstrinker gewesen. Vielmehr dachte er das. Heute weiß er, dass das nicht so war. Dass er und seine Frau viel zu viel tranken. „Erst war es das Gläschen Wein oder Sekt am Abend nach getaner Arbeit“, sagt Heiko. Aus dem einen Glas werden zwei Gläser, dann ist es eine Flasche Wein, später sind es zwei Flaschen. Jeden Abend. Am Morgen steht Heiko auf, zieht sich seinen Anzug an, fährt ins Büro. Heiko, der im wahren Leben anders heißt, dessen Identität hier aber geschützt werden soll, arbeitet im Management eines großen Unternehmens. Dort habe nie jemand in all den Jahren etwas von seiner Sucht bemerkt. Dass er Alkoholiker sei, seit vier Jahren trocken, wisse niemand. Zumindest habe nie jemand etwas gesagt. Er sei nie zu spät gekommen, habe nie Aufgaben vermasselt.
„Das ist ja das Verrückte am Alkohol, man funktioniert“, sagt Carla, die Tochter. Vater und Tochter sitzen sich in den Räumen der Suchthilfe der Mannheimer Caritas gegenüber. Auch Carla heißt eigentlich anders. Beide haben sich bereit erklärt, über die Alkoholsucht zu sprechen, der ihre Familie fast zerstört hätte.
Jahrelang denkt Carla, das Kind, es sei normal, dass sich Eltern am Abend in Monster verwandeln. Keine Monster, die aggressiv sind, sondern die Mutter total emotional und anhänglich, der Vater in sich gekehrt, bisweilen gereizt und schnippisch. „Meine Mutter hat sich die Liebe, die sie in dem Moment gebraucht hat, genommen, unabhängig davon, wie ich mich gefühlt habe“, sagt Carla. Gleichzeitig sei sie vergesslich gewesen, habe ständig gefragt: „Wann ist morgen Schule?“ Carla sagt, es habe ihr in all den Jahren an nichts gemangelt, Geld sei vorhanden gewesen, ihre Mutter habe mittags gekocht und sich auch sonst um die Angelegenheiten der Kinder gekümmert.
Alkoholsucht bei den Eltern - viele Jahre hält die Fassade
Sie erinnert sich an den Tag, als ihr bewusst geworden sei, dass in ihrem Zuhause etwas schiefläuft. Sie ist zu Besuch bei einer Freundin, dort sind auch andere Erwachsene zu Gast, einem Vater wird ein Bier angeboten. Der sagt, danke nein, er müsse seine Tochter später noch mit dem Auto abholen. „Er trinkt nicht, weil er weiß, dass er noch Auto fahren muss, es ist das erste Mal, dass ich verstanden habe, dass das normal ist.“ Doch nach außen hält die Fassade, über viele Jahre. Als Carla später, da ist sie bereits in der Oberstufe des Gymnasiums, Lehrkräfte auf die Situation zu Hause anspricht, meinen die: „Das glaube ich nicht, deine Mutter ist doch so engagiert, so schlimm kann es nicht sein.“
Anlaufstellen
- "Kisiko - Kinder sind kompent" als Unterstützungsangebot der Mannheimer Caritas-Suchthilfe für Kinder und Jugendliche, die in einer Familie leben oder gelebt haben, in der ein oder beide Elternteile alkohol-, medikamenten-, oder drogenabhängig sind. Telefon: 0621-12506-117 | kisiko@caritas-mannheim.de | D 7, 5, 68159 Mannheim | Ansprechpersonen: Barbara Seiler und Charlotte Zimmer
- Drogenverein Mannheim mit Hilf.Kids (Hilfen für suchtbelastete Familien) und Patronus (Patenschaften für Kinder aus suchtbelasteten Familien) | E-Mail: drogenverein@mannheim.de oder hilfkids@drogenverein.de | Telefon: 0621-159000
- Bwlv – Fachstelle Sucht , Moltkestraße 2 | E-Mail: fs-mannheim@bw-lv.de oder Telefon: 0621-84250680 | bw-lv.de/beratung/beratungsstellen/fachstelle-sucht-mannheim/
- Ökumenische Arbeitsgemeinschaft Suchtberatung – Caritasverband e.V. und Diakonisches Werk Mannheim, D 7, 5 | E-Mail: suchtberatung@cv-dw-mannheim.de oder Telefon: 0621-12506-130 | caritas-mannheim.de/hilfe-und-beratung/sucht/suchtberatung
- Selbsthilfegruppen:
- Kreuzbund e.V. , E-Mail: mannheim@kreuzbund-dv-mainz.de oder Telefon: 0621-49306101 | kreuzbund.de
- LogOut – Computerspielsucht , E-Mail: shg_log_out@gmx.net oder Telefon: 0170-8555469
- Freundeskreis für Suchtkrankenhilfe Nova Vita Mannheim-Waldhof e.V. , Sandhofer Straße 112 | E-Mail: nova-vita@gmx.de oder Telefon: 0621-49078222. sba
Doch es ist schlimm. Carla hat eine Schwester, die ist drei Jahre älter. Lange versucht diese, die kleine Schwester zu schützen, indem sie den Anschein erweckt, es sei alles in Ordnung. „Sie war auch nur ein Kind und hat getan, von dem sie dachte, dass es das Beste ist“, sagt Carla. So bleibt das Offensichtliche unausgesprochen und Carla allein mit ihren Fragen und Sorgen. Als sie zwölf Jahre alt ist, wird sie krank, sie habe versucht, sich das Leben zu nehmen, sei in eine Klinik gekommen. Dort wird sie behandelt, dass ihre Eltern trinken, sei unerwähnt geblieben. Nach ein paar Wochen kehrt sie zurück, in das Haus, in dem abends die Monster das Sagen haben.
Verzweifelter Brief an die alkoholkranken Eltern
Irgendwann schreiben die Kinder den Eltern einen Brief, sie schreiben, bitte hört auf dem Trinken. „Ich habe den Brief noch“, sagt Heiko. Von da an hätten sie heimlich getrunken. Die Flaschen wurden versteckt, im Wäscheschrank hinter den Winterpullovern, im Keller, im Stiefel im Schuhschrank. Einmal habe ihre Mutter die Spülmaschine eingeräumt, da sei sie in die Küche gekommen, erzählt Carla. „Sie hatte ein Glas in der Hand und hat den Inhalt ins Waschbecken geschüttet.“ Carla spricht ihre Mutter darauf an, die antwortet: „Das war von gestern.“ Es seien diese Lügen, dieses Leugnen gewesen, das Carla erst traurig, später wütend gemacht habe. Sie sagt: „Ich habe gesehen, wie du aus dem Glas getrunken hast.“ Doch die Mutter schweigt.
Lange habe sie versucht, mit ihrer Mutter über die Sucht zu sprechen. „Ich habe ihr ins Gewissen geredet“, sagt Carla. Doch auf der schiefen Bahn gibt es kein Halten mehr. Eines Tages findet Carla die Mutter eingenässt im Bett, neben sich eine Wodkaflasche. „Es sah aus, als sei sie tot.“ Von da an sei sie nur noch wütend gewesen. Aus dem Wunsch, zu helfen, sei Hass entstanden. Sie habe ihre Mutter fortan angeschrien, wenn sie wieder betrunken gewesen sei, sie habe sie auch körperlich angegriffen, geschubst, dass sie taumelte und fiel.
Heiko sieht das und trinkt weiter. Bald trinkt er schon morgens vor der Arbeit. Dann kommt der Tag, da fährt er in der Mittagspause zur Tankstelle und besorgt sich ein Fläschchen Wodka. „Wein dauert zu lange, bis er wirkt, und Wodka riecht man nicht.“ Er habe alle Tankstellen in der Umgebung gekannt, und er wusste auch, wo die Altglascontainer standen. Denn die leeren Wodka-, Wein- und Sektflaschen mussten ja entsorgt werden.
Aus dem abendlichen Ritual wird Sucht
Heikos Eltern sind damals schon tot. Ob seine Schwiegereltern etwas ahnten, vermag er nicht zu sagen. Er und seine Frau hätten immer Alkohol konsumiert. „Nach einem stressigen Tag heimzukommen und sich ein Gläschen Wein einzuschenken, war ein Ritual“, sagt Heiko. Dass aus dem Ritual schon bald eine Sucht wird, erkennt er nicht. Er habe eigentlich immer das Gefühl gehabt, die Situation unter Kontrolle zu haben. „Am Anfang haben wir in der Fastenzeit auf Alkohol verzichtet, ich dachte, wenn das geht, ist ja alles in Ordnung.“ Irgendwann sei das nicht mehr gegangen.
Carla erinnert sich gut an ein Familienfest um die Weihnachtszeit, sie und ihre Schwester seien noch sehr klein gewesen. Am Abend seien sie nach Hause gefahren, die Eltern viel zu betrunken, um das Auto zu steuern. „In mir war eine Todesangst, und meine Schwester hat mich während der Fahrt in den Arm genommen“, sagt Carla. Dass niemand aus der Familie, der gesehen habe, dass die Kinder zu den betrunkenen Eltern ins Auto steigen, eingegriffen habe, finde sie bis heute fahrlässig. Erst viele Jahre später hätten ihre Großeltern die Tochter, ihre Mutter, zur Rede gestellt. „Gebracht hat es nichts, und ich weiß auch nicht, ob es etwas geändert hätte, wenn sie früher interveniert hätten“, sagt Heiko.
Wie die Lage eskaliert- und die Mutter in eine Entzugsklinik geht
Die Wende kommt erst, als der Arbeitgeber die Mutter auf ihren Alkoholkonsum anspricht, sie unter Druck setzt: „So kannst du nicht weitermachen“. Widerwillig habe sich ihre Mutter in eine Entzugsklinik begeben, um nach dem vierwöchigen Aufenthalt weiterzutrinken. Es kommt der Tag, da zeigen die Kinder ihre Mutter bei der Polizei an. „Ich hatte mir ihr telefoniert, ich konnte hören, sie sitzt im Auto und ist nicht nüchtern“, erzählt Carla. Zu dem Zeitpunkt war die Wut auf ihre Eltern so groß, dass es ihr egal gewesen sei, ob die Mutter das Auto an die Wand fährt. Sie hätte es sich aber nie verziehen, wenn sie jemanden anderen verletzt hätte. Also melden die Schwestern der Polizei den Standort der Mutter. Der Führerschein wird ihr entzogen, und wieder schaltet sich der Arbeitgeber ein. Wieder kommt die Mutter in eine Klinik.
Heiko trinkt zu Hause weiter. Exzessiv, wie er sagt. Dann passiert etwas, was er nicht erzählen möchte, doch ihm sei klar geworden: „Du bist so tief gesunken, das kann nur böse enden“. Er googelt im Internet nach Beratungsstellen und stößt auf die Suchthilfe der Caritas in Mannheim. An einem Tag im Herbst vor vier Jahren sitzt er im Büro in den Quadraten, und der Sozialarbeiter vor ihm sagt: „Sie haben ein riesiges Problem.“ Heiko weiß noch, wie er antwortete, ein Leben ohne Alkohol könne er sich gar nicht vorstellen. Doch der Entzug gelingt. Heiko macht eine ambulante Therapie, seine Frau lässt sich stationär behandeln. Heute gelten Heiko und seine Frau als trockene Alkoholiker. Heiko weiß, dass die Krankheit, die Alkoholsucht, ein Leben lang bestehen bleibt. Angst, rückfällig zu werden, hat er trotzdem nicht. „Am Anfang stand das Bedauern, nie mehr trinken zu können, doch heute weiß ich: Es geht, und es geht mir damit auch viel besser, körperlich und mental.“
Angst vor gesellschaftlichem Stigma
Heiko würde die Zeit am liebsten zurückdrehen. Gegenüber seinen Töchtern empfindet er Schuld. „Wir, die Eltern, tragen für das Leid unserer Kinder die Verantwortung, das lässt sich nicht wegdiskutieren.“ Dass der Konsum von Alkohol gesellschaftlich akzeptiert sei, sieht er als großes Problem. „Zu trinken ist normal, man sticht eher heraus, wenn man nicht trinkt.“ Gleichzeitig fürchteten Menschen, aufgrund ihrer Sucht stigmatisiert zu werden. Deshalb suchten sie sich keine Hilfe, vielfach wüssten sie auch gar nicht, an wen sie sich wenden könnten. „Aber ist es nie zu spät, und es geht anonym und diskret.“
Carla weiß, dass sie keine normale Kindheit hatte, dass die psychischen Probleme, die sie bis heute begleiten, ihre Ursache in der Alkoholkrankheit ihrer Eltern haben. Sie wünschte sich, es wäre nicht so, und doch ist sie dankbar für die Erfahrung. Sie wisse, dass sie trotzdem bestimmen könne, wer sie sei. Zwei Dinge habe sie außerdem verstanden: Sie könne niemandem helfen, der sich nicht helfen lassen wolle, und doch sei es wichtig, einen Funken Hoffnung zu bewahren. „Wenn man selbst nicht dabei kaputt geht, lohnt es sich, zu kämpfen.“
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