Sucht

Anonyme Alkoholiker in Mannheim: „Jetzt und die nächsten 24 Stunden trinke ich nichts!“

Seit 40 Jahren finden alkoholkranke Menschen bei der Kontaktstelle in der Mannheimer Augartenstraße Hilfe. Oft ähneln sich ihre Schicksale. Ein Besuch.

Von 
Waltraud Kirsch-Mayer
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Ein regelmäßiger Griff zum Glas kann der schleichende Beginn von Alkoholismus sein (Symbolbild). © picture alliance / Sebastian Gollnow/dpa

Mannheim. Trocken ist Otmar seit 24 Jahren. Meetings der Anonymen Alkoholiker besucht er nach wie vor regelmäßig – „das ist meine Lebensversicherung“. Der Endsechziger hat sich mit einigen AA-Freunden bereit erklärt, zu erzählen, wie einst Bier, Wein und Hochprozentiges den Alltag bestimmt haben. Und wie es gelang, Kontrolle über das Leben zurückzuerobern – manchmal erst nach Rückfällen. Kürzlich hat die Kontaktstelle in der Augartenstraße ihr 40-Jähriges gefeiert.

So unterschiedlich die Biografien verlaufen sind, von denen Otmar, Kai, Kurt, Jürgen und Bruno berichten, die eigentlich andere Vornamen haben – in ihren Erzählungen ploppen ähnliche Phänomene auf: Sich selbst belogen und lange eine Abhängigkeit nicht eingestanden zu haben. Oftmals verwoben mit der Fähigkeit, auch Angehörige oder Arbeitskollegen zu täuschen.

Alkoholkranker berichtet „Man windet sich wie ein Aal“

„Ich funktionierte noch bei 1,6 Promille“, blickt Kurt zurück. „Absurderweise“ habe er in einem Großbetrieb als Vertrauensmann schon mal „angetrunken“ den Kollegen das firmeninterne Alkoholverbot vermittelt, was zu seinen Aufgaben gehörte. „Viele, viele Jahre wurstelte ich mich irgendwie durch“, sagt ein pensionierter Schlosser. Kollegen hätten ihn gedeckt. Und wenn im Job Ärger drohte, „dann habe ich eine Zeitlang weniger getrunken, man windet sich wie ein Aal“.

Anonyme Alkoholiker – gemeinsam aus der Sucht

  • Die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker gründen 1935 im US-Staat Ohio ein Chirurg und ein Börsenmakler, beide trunksüchtig . 1953 kommt die AA-Gemeinschaft über hier stationierte US-Soldaten nach Deutschland und erlebt in den 1960ern einen ersten Aufschwung.
  • Das Bundessozialgericht erkennt 1968 Alkoholismus in einem wegweisenden Urteil als Krankheit an , so dass gesetzliche Kassen eine Therapie zahlen müssen. Zuvor galt Trunksucht als Charakterschwäche.
  • Im Sommer 1985 wird die Mannheimer Kontaktstelle in der Augartenstraße gegründet . Eine erste örtliche Gruppe ist in der Quadratstadt bereits 1967 entstanden. Die Anlaufstelle in K2 mit Gastronomie schließt 2014 aus finanziellen Gründen.
  • Da Motto „Allein schafft es keiner, gemeinsam jedoch einige“ gilt bis heute und ist mit der Botschaft verknüpft: „Lass heute das erste Glas stehen!“ Die weltweite AA-Bewegung definiert sich als Männer und (zunehmend auch) Frauen, die „entdeckt und sich eingestanden haben, dass der Alkohol ein Problem für sie geworden ist “.
  • Als spirituelle Grundlage auf dem Weg zu einem „genesenden“ und damit trockenen Alkoholiker dienen „Zwölf Schritte“. Das Selbstverständnis der AA regeln „Zwölf Traditionen“, beispielsweise das Prinzip der Unabhängigkeit und natürlich der Anonymität jedes Einzelnen .
  • In der Mannheimer Kontaktstelle finden täglich, auch an Sonn- und Feiertagen, Meetings mit festen Zeiten statt. Adresse: Augartenstraße 13. Telefon: 0621/ 44 88 00. Infos über die Meeting-Guide App (Meeting-Finder) oder www.anonyme-alkoholiker/meetings. wam

Und wie hat das Trinken begonnen? In den geschilderten Lebensläufen tauchen Wörter wie „schleichend“, „ausgeblendet“, „verdrängt“ auf. Und mehrere berichten, schon im Alter von 14, 15, sogar früher mit Alkohol in Kontakt gekommen zu sein: Weil dies als cool galt, das Selbstwertgefühl steigerte. Und später halfen Wein, Bier, Schnaps und Co. Konflikte wie Alltagsprobleme zu kaschieren. „Ich habe Alkohol wie ein betäubendes Medikament eingesetzt“, blickt Jürgen zurück, der in einer gewalttätigen Familie aufgewachsen ist und offen über seine Knastkarriere samt „Rein und raus“ spricht.

Kurt war er sieben Jahre trocken. Und gönnte sich einen Piccolo Sekt

Kai ist jung durchgestartet: erfolgreicher Diskjockey, Ausbildung mit späterer Meisterprüfung, bald ein eigenes Haus, großes Auto, Frau und Kinder. „Alles schien gut“ – trotz zunehmender Alkoholexzesse. Diese sollten in Kombination mit 60-Stunden-Wochen ihren Tribut fordern. Einem Burnout folgte ein klinischer Entzug. Allerdings griff Kai schon bald wieder zu Wodka. Zu viel war passiert. „Als meine Ehe scheiterte, brach für mich eine Welt zusammen.“ Erst als seine älteren Kinder sagten, „Papa, es muss was passieren“, habe er gewusst, „ja, jetzt muss ich etwas tun“. Mehrfach sei er trocken gewesen, so der inzwischen 49-Jährige. Im Oktober hat er sich den Anonymen Alkoholikern angeschossen. Kai hat das Gefühl, es diesmal zu schaffen. Auch weil er sich „spirituell“, wie er sagt, mit seinem Leben auseinandersetzt.

Und ratzfatz war ich wieder Vollalkoholiker, habe mir aber vorgemacht, alles im Griff zu haben
Alkoholiker aus Mannheim

Von Rückfällen berichten auch andere. Beispielsweise Kurt. Nach einem langen Klinikaufenthalt als Mittdreißiger war er sieben Jahre trocken. Danach glaubte er gefestigt genug zu sein, sich mal wieder einen Piccolo Sekt zu gönnen. „Und ratzfatz war ich wieder Vollalkoholiker, habe mir aber vorgemacht, alles im Griff zu haben.“ Otmar wirft ein, auch nach mehr als zwei Jahrzehnten ohne Alkohol, würde er Fleisch in (Rotwein-)Burgundersoße meiden.

Das Glas einfach stehenzulassen. Erst heute, dann morgen und auch die Tage darauf.

Immer wieder kreist das Gespräch um das 24-Stunden-Prinzip: „Sich vorzunehmen, nie mehr Alkohol zu trinken, und zwar ein Leben lang, diese Vorstellung wäre einfach zu monströs“, sagt Otmar. Deshalb gehe es darum, jetzt und die nächsten 24 Stunden nichts zu trinken. Das Glas mit Alkohol einfach stehenzulassen. Erst heute, dann morgen und auch die Tage darauf.

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Zu den AA-Meetings in der Augartenstraße haben die Männer höchst unterschiedlich gefunden. Einer erzählt, beim „Wegbrechen des alten Lebens“ von einem Anwalt den Tipp bekommen zu haben, ein anderer erinnert sich daran, wie er im „MM“ eine Reportage über die Anonymen Alkoholiker gelesen und sich entschlossen hat, dorthin zu gehen.

Otmar hat seit seinem ersten Gruppenmeeting nie mehr getrunken

„In den Meetings sagt niemand, Du musst, das hat mir gefallen!“ - „Hier braucht keiner dem anderen etwas vormachen, das würde ohnehin durchschaut.“ -„Ich fühle mich akzeptiert, auch weil hier alle gleich sind.“ So oder ähnlich lauten Erklärungen, was jeweils bei den AA hält. Otmar: „Die Gruppe ist für viele wie eine Lebensschule.“ An der Wand des schlichten Gruppenraums hängen in Großbuchstaben die „Zwölf Schritte“ sozusagen als Leitfaden. Punkt eins lautet: „Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten.“ Daneben prangen die „Zwölf Traditionen“ und die beginnen: „Unser gemeinsames Wohlergeben sollte an erster Stelle stehen.“ Etwas weiter darunter heißt es: „Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit ist der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören.“

Otmar hat seit seinem ersten Gruppenmeeting nie mehr getrunken. Das kriegen nicht alle hin. Nach seinem inzwischen Jahre zurückliegenden letzten Rückfall, so berichtet ein AA-Freund, sei ihm am Telefon gesagt worden, „komm einfach bei uns vorbei“. Das tat er. Und dieses Mal schaffte er es vom nassen zum trockenen Alkoholiker. „Darauf bin ich sehr stolz.“

Freie Autorin

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