Gratulation zu der Auszeichnung, Herr Haass! Nicht die erste. Als Sie beispielsweise 2002 den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis und damit den wichtigsten Wissenschaftspreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft bekamen, war die Situation freilich eine andere. Medikamente gegen das große Vergessen schienen kurz vor dem Durchbruch.
Christian Haass: Damals wurden erste Antikörper gegen Plaques im Alzheimergehirn erfolgreich im Tiermodell getestet. Diese schafften tatsächlich, die Bildung und Anreicherung der typischen Eiweißablagerungen zu verhindern. Klinische Studien waren aber immer wieder von herben Rückschlägen gekennzeichnet. Plaques wurden zwar reduziert – aber offenbar ohne Wirkung auf den Gedächtniszerfall. Viele Forscher folgerten daraus, dass das Amyloid – ein kleines, schnell verklumpendes Eiweiß, aus dem die Plaques bestehen – für die Krankheit irrelevant ist. Dieser fatalen Meinung habe ich mich nie angeschlossen. Die kürzlich erfolgreiche Studie mit einem Anti-Amyloid-Antikörper gibt nun Amyloid-Forschern recht.
Christian Haass
- Christian Haass, Jahrgang 1960, verheiratet, zwei erwachsene Kinder, begeisterter Hobby-Vogelkundler, stammt aus einer Mannheimer Arztfamilie.
- Er war mit gerade mal 35 Jahren Professor für Molekularbiologie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) und nahm 1999 einen Ruf der Münchner Maximilian-Universität an.
- Der Alzheimer-Forscher, der sich auch mit Hirnveränderungen bei Parkinson beschäftigt, erhielt vor dem aktuellen Hector-Wissenschaftspreis zahlreiche Auszeichnungen – darunter (2002) den wichtigsten Wissenschaftspreis der Deutschen Forschungsgesellschaft, den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis, außerdem 2018 den „Brain Prize“, der als „Hirn-Nobelpreis“ für europäische Neurowissenschaftler gilt.
Es waren für Sie als Forscher zwei schwierige Jahrzehnte?
Haass: Ja, es war sehr beschwerlich, gegen einen gewaltigen Sturm aus Wissenschaft, Politik, Öffentlichkeit und Presse an meiner Meinung zur Ursache der Erkrankung festzuhalten.
Schon der legendäre Mediziner Alois Alzheimer sprach von Plaques, die er im Hirn seiner 1906 verstorbenen Patientin Auguste D. entdeckt hatte. Was tat sich danach?
Haass: Konrad Beyreuther fand vor über 30 Jahren in Heidelberg heraus, dass das Gen, welches für das Amyloid codiert, auf Chromosom 21 liegt. Eine fundamentale Erkenntnis! Down-Syndrom-Betroffene mit drei anstatt zwei Kopien dieses Chromosoms entwickeln nämlich unweigerlich mit circa 50 Jahren eine Alzheimer-Demenz. Der Grund: Es wird zu viel Amyloid produziert. Ähnliche Mechanismen fand man für die familiäre Alzheimer-Erkrankung. Hier bewirken alle bekannten Genveränderungen, dass entweder mehr oder eine schneller verklumpende Variante des Amyloids produziert wird. Solche Patienten entwickeln dann bereits in sehr jungen Jahren eine typische Alzheimerpathologie.
Es soll aber auch so etwas wie einen genetischen Schutz geben.
Haass: Richtig, in sehr seltenen Fällen. Auf Island fand man eine Genveränderung, welche zu einer lebenslangen Reduktion des Amyloids von rund 40 Prozent führt – das reicht, um solche Familienmitglieder bis ins hohe Alter vor Demenz zu schützen. Dies sind wissenschaftliche Fakten, an denen niemand zweifelt – die aber gern unter den Teppich gekehrt werden.
Wienhard und Haass geehrt
- Die Wissenschaftspreise der Weinheimer Hector-Stiftung, die mit jeweils 150 000 Euro dotiert sind, gehen an die Mathematikerin Anna Wienhard vom Leipziger Max-Planck-Institut (Bild) und an den Biochemiker Christian Haass von der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen. In der Pressemitteilung werden „die herausragenden Forschungen“ der beiden betont.
- Die 45-jährige Preisträgerin, die aus Gießen stammt und von 2012 bis 2022 an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg lehrte, gilt als eine der weltweit führenden Mathematikerinnen auf dem Gebiet der Differentialgeometrie. Wie die Jury hervorhebt, engagiert sie sich zudem „für die enge Verknüpfung von mathematischer Grundlagenforschung mit anderen Wissenschaften“.
- Bei Christian Haass hebt die Jury hervor: Schon in den 1990ern vermochte der damals noch junge Biochemiker entgegen der damaligen Auffassung nachzuweisen, dass der Eiweißstoff Amyloid nicht notwendigerweise Bestandteil krankhafter Prozesse ist, sondern auch im gesunden Gehirn vorkommt. Der gebürtige Mannheimer, so heißt es in der Begründung für die Auszeichnung, „ebnete mit seinen Forschungen den Weg für neue therapeutische Ansätze“.
Sie betonen seit Jahren, dass Amyloid, und damit im Körper produziertes Eiweiß, nicht der einzige Player bei der Alzheimer-Entstehung ist.
Haass: Wir sprechen von einer Amyloid-Kaskade, eine Art Wasserfall, in der eine Komponente die nächste auslöst. Amyloid steht ganz oben und leitet zahlreiche weitere giftige Reaktionen ein, an deren Ende der Nervenzelltod steht – und damit der Gedächtnisverlust. Hierzu gehören beispielsweise jene Bündel – wir sprechen hier von ‘tau-tangles‘ –, die in Nervenzellen abgelagert werden. Unterbricht man die Kaskade an dieser Stelle, können Plaques zumindest im Tiermodell keinen Nervenzelltod mehr auslösen. Plaques und ‘tangles‘ gehören unwiederbringlich damit zusammen. Ich wehre mich vehement gegen die Darstellung, dass hier zwei konträre und widersprüchliche Arbeitsgebiete aufeinandertreffen.
Lecanemab, ein Antikörper gegen Eiweißablagerungen, also Plaques, hat große Hoffnung ausgelöst, macht aber auch durch Nebenwirkungen von sich reden. Wie sehen Sie die Zukunft des Wirkstoffs, an dessen Studie auch das Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Ihre frühere Wirkungsstätte, beteiligt war?
Haass: Der Antikörper hat die Plaqueablagerung in einer großen klinischen Studie mit 1795 Patienten /Patientinnen um rund 70 Prozent gemindert. Gleichzeitig wurde der Gedächtnisverlust erstmals in allen gemessenen und relevanten Parametern spürbar reduziert. Das ist ein gewaltiger Erfolg! Obendrein hat der Amyloid-Antikörper die Bestandteile der ‘tangles ‘ reduziert – ein deutlicher Hinweis auf die von mir beschriebene Kaskade. Eigentlich ein fulminanter Durchbruch!
Und dennoch gibt es kontroverse Diskussionen.
Haass: Ja, jetzt ist die Wirkung auf das Gedächtnis nicht groß genug. Man sollte aber bedenken, dass sich in dem kurzen Studienzeitraum, 18 Monate, bei Patienten und Patientinnen mit sehr milden Symptomen das Gedächtnis nicht so drastisch verschlechtert, dass man massive Verbesserungen erwarten könnte. Hierzu sind Langzeitstudien notwendig. Sicherlich ist diese Therapie noch mit vielen offenen Fragen behaftet. Klar, es müssen parallel bessere Antikörper oder andere Amyloid entfernende Strategien entwickelt werden. Es ist aber erstmalig gelungen, den Gedächtnisverlust zumindest zu verlangsamen. Mein ehemaliger Chef an der Harvard Medical School, Professor Dennis Selkoe, hat diese Diskussion kürzlich im Wissenschaftsmagazin Science auf den Punkt gebracht: In therapeutics, as in life, one must walk before one can run – bei Behandlung wie im Leben muss man erst mal gehen, bevor man rennen kann.
Viele Forschungsgruppen sind überzeugt, dass sich die tückische Erkrankung lange vor ersten Symptomen anpirscht.
Haass: Wir finden in der Tat erste pathologische und molekulare Veränderungen im Gehirn bereits 20 Jahre und mehr vor auffälligen Gedächtnisstörungen. Wir müssen also das Risiko für Alzheimer zu einem Zeitpunkt feststellen, bei dem man scheinbar noch völlig gesund ist.
Gibt es Früherkennungstests?
Haass: Momentan wird weltweit an Biomarkern geforscht. Mittels Hinweisen auf Veränderungen im Blut oder Hirnwasser hofft man, eine beginnende Alzheimer-Erkrankung vorhersagen zu können. Es gibt recht gut etablierte Methoden, die aber teilweise noch mit sehr hohem technischen Aufwand verbunden sind. Amyloid-Ablagerungen lassen sich zusätzlich durch bildgebende Verfahren früh nachweisen.
Auf was konzentriert sich Ihr Forschungsteam momentan?
Haass: Wir gehen der zentralen Frage nach, wie die Immunabwehr des Gehirns auf die Alzheimerpathologie reagiert. Dabei fanden wir heraus, dass Fresszellen im Gehirn Plaques erkennen und diese eliminieren beziehungsweise neutralisieren. Damit sind Immunzellen auch Bestandteil der Amyloid-Kaskade und haben damit eine schützende Funktion – genau das Gegenteil von dem, was über Jahrzehnte postuliert wurde.
Und wie agieren die Fresszellen?
Haass: In einer Art Abwehrfunktion stellen Fresszellen ihr Programm um. Dies ermöglicht ihnen beispielsweise, Plaques regelrecht zu riechen und diese zu umzingeln. Die Regulation läuft über einen Schalter, den man wie einen Lichtschalter anknipsen kann. Wir fanden, dass kleine Veränderungen in diesem Schalter das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, drastisch erhöhen können. Entsprechend dieser Erkenntnis wollen wir den Regulator therapeutisch nutzen. Erste klinische Versuche stehen an. Mein Traum wäre, durch Aktivieren der Fresszellen die Wirkung der Amyloid- Antikörper zu verstärken – und so eine rasche und effizientere Entfernung der Alzheimerpathologie zu erreichen.
Auf was hoffen Sie generell in der Alzheimer-Forschung?
Haass: Mein großer Wunsch wäre, dass Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit gemeinsam eine rein Fakten-basierte Diskussion über den aktuellen Stand und die Zukunft der Alzheimer-Behandlung zum Wohle der Betroffenen wie der Angehörigen führen. So ein interdisziplinärer Workshop ließe sich vielleicht über die Hector-Stiftung organisieren.
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