Mannheim. Tobias Stahl ist am Lessing-Gymnasium für Berufsorientierung zuständig. Als der „Mannheimer Morgen“ mit dem Lehrer spricht, ist ein Großteil der Schülerinnen und Schüler nicht im regulären Unterricht. Die elften Klassen nehmen am „Tag der Studien- und Berufsorientierung“ teil. Die zehnten sind beim Berufspraktikum, die achten und neunten informieren sich beim Girls- und Boys-Day über verschiedene Berufe.
Wenige Tage später sind die elften Klassen einmal mehr unterwegs – auf dem Maimarkt. Dort steht der „Tag des Handwerks“ auf dem „Stundenplan“ – die Handwerkskammer informiert die Schülerinnen und Schüler über verschiedene Ausbildungsmöglichkeiten.
Diese Termin-Ballung spiegelt natürlich nicht den Schulalltag wider. Sie zeigt allerdings, dass berufliche Orientierung heutzutage auch in Gymnasien eine deutlich höhere Rolle spielt als früher. Aber wird wirklich genug getan? Überall? Oder bleibt es dem Zufall überlassen, wie stark sich Gymnasien auf diesem Gebiet engagieren?
Mit Ministerium unzufrieden
Diese Frage treibt den Mannheimer Landtagsabgeordneten Stefan Fulst-Blei um, der zugleich bildungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion in Stuttgart ist. In einer Kleinen Anfrage ans Kultusministerium wollte er unter anderem wissen, wie viele Gymnasien im Bereich des Schulamts Mannheim an einer Ausbildungsmesse teilgenommen oder einen praktischen Berufsorientierungstag angeboten hätten. Antwort: „Die angefragten Daten werden nicht erhoben.“
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Gleiches gilt für die Frage, in welchem Umfang berufliche Praktiker im Rahmen des Schulfachs Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung (WBS) Unterrichtsinhalte vermitteln. Eine Übersicht gab das Kultusministerium dagegen zum Thema, wie oft Ausbildungsbotschafterinnen oder -botschafter im Bereich des Mannheimer Schulamts eingesetzt wurden. Sie gingen im Schuljahr 2018/19 insgesamt 67 Mal an 23 Gymnasien, in den folgenden drei Jahren aber deutlich weniger. Das sei allerdings auf die Corona-Pandemie zurückzuführen, so das Kultusministerium.
Diesen Rückgang nennt Stefan Fulst-Blei gleichwohl „besorgniserregend“. Noch mehr beschäftigt ihn allerdings, dass in Stuttgart „weder erfasst wird, ob Schulen Berufsorientierungstage anbieten, Berufsmessen besuchen oder in welchem zeitlichem Umfang dies in den Gymnasien geschieht“. Vor dem Hintergrund des „massiven Fachkräftemangels im Bereich der dualen Ausbildung“ zeigten die Antworten des Ministeriums, „dass hier anscheinend der Handlungsdruck noch nicht wirklich erkannt wurde“.
Regelmäßige Sprechstunden
In vielen Gymnasien sieht das anders aus, wie nicht nur das Beispiel Lessing zeigt. „Ich glaube, dass wir relativ viel machen“, betont Roland Haaß, Direktor des Johanna-Geissmar-Gymnasiums (JGG) und geschäftsführender Leiter der Mannheimer Gymnasien. Neben Berufsorientierungspraktikum, Girls- und Boys-Day, Besuch von Ausbildungsbotschaftern und Tagen der Berufsorientierung hat zum Beispiel eine Beraterin der Arbeitsagentur im JGG ein Büro und bietet regelmäßige Sprechstunden an.
Außerdem besuchen Neuntklässler einen Tag lang das Berufsinformationszentrum der Arbeitsagentur. „Sie bekommen dort einen Überblick über Berufsfelder, von denen sie einige vielleicht noch gar nicht kannten“, berichtet Roland Haaß. Außerdem würden im Fach WBS Berufe ausführlich vorgestellt.
Die Angebote in der Oberstufe konzentrierten sich zwar stärker auf die Studienorientierung. Aber auf der Vocatium-Messe Mitte Mai in der SAP-Arena – einer Fachmesse für Ausbildung und Studium, an der Schülerinnen und Schüler der Kursstufe teilnehmen – habe die Berufsorientierung einmal mehr eine zentrale Rolle gespielt. Fazit von Haaß: Auf den Vorwurf, es gebe zu wenig Berufsorientierung, hätten die Gymnasien reagiert: „Das ist deutlich besser geworden“, und vor allem in Unter- und Mittelstufe werde die „breite Vielfalt an Ausbildungsberufen“ vermittelt.
IHK sieht Nachholbedarf
Aus Sicht von Harald Töltl, Geschäftsführer Berufsbildung bei der IHK Rhein-Neckar, sind die Gymnasien gleichwohl „noch zu sehr aufs Studium ausgerichtet“. Anders als früher, als Haupt- und Realschulen dominierten, sei der Anteil der Gymnasiasten an der Schülerschaft stark gewachsen. Dem sei Rechnung zu tragen. Schließlich fehlten beruflich qualifizierte Fachkräfte schon jetzt in deutlich höherem Maße als akademische Fachkräfte.
Und in Zukunft, so der Fachkräftemonitor der IHK, wird die Schere noch viel weiter auseinanderklaffen. Regional gesehen gebe es durchaus Unterschiede, was die Berufsorientierung in Gymnasien betreffe. Unterm Strich, so Töltl, seien die Gymnasien in Mannheimer da offener als beispielsweise in Heidelberg. Wer wie viel macht, das bleibe aber oft den Gymnasien selbst überlassen.
Genau das kritisiert auch der Landtagsabgeordnete Stefan Fulst-Blei: „Die berufliche Orientierung an Gymnasien ist weiterhin zu wenig verbindlich und intransparent.“ Deshalb hatte die SPD im vergangenen Herbst einen Vorstoß unternommen, um das Schulgesetz anzupassen. Dort sollte die Gleichwertigkeit von Studium und beruflicher Ausbildung in der Berufsvorbereitung an den Gymnasien verankert werden. Dieser Vorstoß ist zwar gescheitert. Aber die SPD will nicht locker lassen. Auch Lehrer Tobias Wahl könnte sich eine solche Gesetzesänderung gut vorstellen.
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