Gleich drei Mal gebraucht er die Formulierung. „Wir haben uns getäuscht“, sagt Günther Oettinger, und er sagt das mit Bedauern und auch ein bisschen Selbstkritik. Aber die Hoffnung, dass mit der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 die Demokratie endgültig weltweit den Siegeszug antrete, habe sich nicht erfüllt, so der frühere Vizepräsident der Europäischen Kommission und ehemalige Ministerpräsident beim Festakt der CDU zum Tag der Deutschen Einheit.
Der Tag sei „immer noch ein Grund zu Freude und Dankbarkeit“, begrüßt Christian Hötting, Mannheimer CDU-Kreisvorsitzender, die Gäste im Saal des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung. Gleich 1990 hat der damalige CDU-Kreisvorsitzende Wolfgang Pföhler die Tradition begründet, diesen Tag festlich zu begehen. Die CDU-Mittelstandsvereinigung finanziert den Empfang mit, und der CDU-Kreisverband Ludwigshafen lädt mit ein. Diese Tradition wolle man auch beibehalten, verspricht deren Kreisvorsitzender Torbjörn Kartes. Schließlich gebe es inzwischen eine ganze Generation, die Deutschland gar nicht mehr geteilt kenne und das „politische Meisterstück und Beispiel für geglückte Weltpolitik“ von Helmut Kohl gar nicht ermessen könne. Doch dazu habe man „den absolut richtigen Redner gefunden“, lobt Kartes Günther Oettinger, und von dem gibt es dann wirklich eine aufschlussreiche Geschichtsstunde.
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Er erinnert seine Zuhörer daran, dass „ihr Mitbürger“, wie Oettinger Helmut Kohl nennt, „das Zeitfenster erkannt und entschieden genutzt“ habe, das zur Deutschen Einheit offen stand. Doch der Fehler sei gewesen, „dass wir danach glaubten, die Dinge sind auf ewig entschieden und die Demokratie hat auf Dauer gesiegt“, so Oettinger, weswegen man auf äußere und innere Sicherheit weniger Wert gelegt habe. „Da waren wir träumerisch unterwegs“, merkt er bedauernd an.
Zwar habe noch 1994 bei einer Konferenz in Budapest der damalige russische Präsident Boris Jelzin – gemeinsam mit den USA und Europa – die Souveränität und die damaligen Grenzen der Ukraine anerkannt, wenn diese (wie dann geschehen) auf die teils bei ihr gelagerten einstigen russischen Atomwaffen verzichte. Doch Jelzins Nachfolger Putin halte sich eben nicht daran. „Er ist ein Vertragsbrecher, ein Völkermörder“, so Oettinger deutlich. Doch das habe man wissen können, wenn man die Schriften von Putin gelesen habe. „Man muss die Bücher und Reden von Diktatoren lesen“, mahnt der frühere Ministerpräsident.
Und er blickt zurück auf die heftige Auseinandersetzung in Deutschland zu Beginn der 1980er Jahre über die Nato-Nachrüstung, die damals – bei der Bevölkerung unbeliebt – gleichziehen wollte mit den sowjetischen Raketenarsenalen. Nur weil der Westen einst standhaft geblieben sei, habe die Sowjetunion letztlich eingelenkt, einer Abrüstung zugestimmt und letztlich auch den Umschwung im Osten und die Deutsche Einheit ermöglicht. „Aus der Geschichte kann man lernen“, so Oettingers Schlussfolgerung. „Frieden schaffen mit weniger Waffen ist schön“, so der Redner, aber Diktaturen gegenüber müsse man stark auftreten. Der Fehler sei dann allerdings gewesen, bei der Bundeswehr zu sparen und die Wehrpflicht auszusetzen. „Das trifft auch unsere Partei und die von mir sehr geschätzte Kanzlerin“, so Oettinger kritisch. „Wir haben gedacht, dass alles gelaufen ist, dass die Demokratie im Endspiel gesiegt hat“, aber das sei keineswegs so: „Wir leben weiter in einem Kampf der Systeme, der längst nicht entschieden ist!“ Daher müsste Europa stark sein und dafür sorgen, dass seine Staatsform und die Menschenrechte weiter eine hohe Anziehungskraft entfalten könnten. „Nicht nur die S-Klasse, auch unsere Werte sollten wir exportieren“, fordert Oettinger unter kräftigem Beifall der Zuhörer.
Hefige Kritik übt Oettinger aber nach dem geschichtlichen Teil seiner Rede auch an Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank („Auf der Bühne glänzend, in der Sache mittelmäßig“) wegen der enorm gestiegenen Inflation. Und er warnt nachdrücklich vor einer „Deindustrialisierung“, wenn es nicht gelinge, die Energielieferungen und Energiekosten in den Griff zu bekommen. „Darum muss man sich jetzt kümmern“, mahnt er.
Oettinger sei eben „ein brillanter politischer und strategischer Kopf“, dankt ihm schließlich Claudius Kranz, Vorsitzender der CDU-Gemeinderatsfraktion. Oettingers Analyse habe noch einmal bewusstgemacht, dass „die deutsche Einheit ein absoluter Glücksfall“ gewesen sei und sie zu einem anderen Zeitpunkt nie Realität geworden wäre, so Claudius Kranz.
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