Mannheim. Hier war einmal ein Mädchenwohnheim, heute befinden sich Eigentumswohnungen darin. Das große Gebäude in der Sandhofer Leinenstraße, zwischen den Einmündungen Niederbronner Straße und Hanfstraße gelegen, war vor rund 120 Jahren der repräsentative Abschlussbau der dahinter liegenden Jutesiedlung, die durch ihre schmalen Gässchen mit sprechenden Namen auffällt. Weil damals unverheiratete junge Frauen und minderjährige Mädchen darin wohnten, heißt es bis heute Mädchenwohnheim. Doch nach dem Niedergang der Jutefabrik erlebte das Gebäude eine wechselvolle Geschichte. Eine Zeit lang war es Seniorenheim, trug den Namen Maria Frieden und wurde von Liobaschwestern geführt.
Als unsere Leserin Maria Höhn vor einiger Zeit den Bericht über die Jutesiedlung und das Mädchenwohnheim in dieser Zeitung las, wurden in ihr Erinnerungen wach. Ausgerechnet nämlich in einer Phase, während der das Gebäude als Altenheim von katholischen Schwestern geführt wurde, lebte sie rund ein Jahr in diesem Haus - also als etwa zehnjähriges Mädchen im „Mädchenwohnheim“, das zu dieser Zeit ein Seniorenheim war. Ein ganzes Fotoalbum hat sie auf dem Tisch liegen und blättert darin. „Das hier bin ich mit meiner Schwester und meinem Opa im Garten von Maria Frieden“, sagt sie und zeigt auf die Person rechts im Bild, die eine lange Schürze trägt. Das war 1948, also gegen Ende des einen Jahres, das sie dort verbrachte. Ein anderes Foto zeigt sie vor der Kapelle des Seniorenheims. Der Bub zwischen ihr und ihrer Schwester ist wohl der Ministrant, die Frauen im Hintergrund, zum Teil Seniorinnen, halten Gefäße mit Kerzen darin in den Händen.
Eine Freundschaft für das ganze Leben entstand
Maria Höhn musste früh schwere Schicksalsschläge verkraften. Der Vater lebte nicht mehr und 1946 musste die Mutter ins Lungensanatorium nach Rohrbach, darum kamen die beiden Mädchen zur Oma. Dann fallen in der Erzählung zwei Daten, die sich fest in die Erinnerung eingebrannt haben: Am 31. Juli 1947 starb die Oma, die Mutter konnte vom Sanatorium aus noch regeln, wie ihre Kinder untergebracht werden sollten, damit sie versorgt waren. Am 31. August verstarb sie selbst, und die beiden Mädchen waren Vollwaisen. Im Seniorenheim, wo sie nun lebten, waren sie die einzigen Kinder. „Dort war es eigentlich schön.“ Zur Schule wurde Maria von zwei Freundinnen abgeholt, die das besonders gerne taten, weil es für sie immer ein geschmiertes Brot auf die Hand gab. Der Kontakt blieb erhalten, Maria wurde die Patin der Tochter einer der Freundinnen, „und sie war später Patin bei meinen Buben“.
Auf Dauer sollten sie jedoch nicht im Seniorenheim bleiben, die Oberin von Maria Frieden vermittelte sie nach Friedenweiler in den Hochschwarzwald, wo sie in einem Hotel als „Pflegekinder“ untergebracht wurden. Für Schulunterricht war durchaus gesorgt - bei dem die Dorfkinder der 4. bis 8. Klasse freilich gemeinschaftlich unterrichtet wurden. Hausaufgaben? „Die habe ich meistens schon in der Pause gemacht.“ Das war nicht dumm, denn der Rest des Tages war durchgetaktet.
Waisenkinder, so hieß es damals, würden sehr schnell in Erziehungsanstalten gesteckt, und davor hatte man ja Angst
Die beiden Schwestern, die 1948 mit neun und zehn Jahren in den Hotelbetrieb eingeschleust wurden, arbeiteten als unbezahlte Hilfskräfte bis in den Abend hinein, Marias Schwester als Zimmermädchen, die Ältere im „Office“; so hieß dort der Bereich zwischen Küche und Speisesaal. Zwar überzeugte sich die Oberin aus Mannheim ab und zu mit Besuchen von ihrem Wohlergehen und das Jugendamt schaute nach dem Rechten - aber immer angemeldet.
Sollten die Kinder bei den Kontrolleuren mal den Mund aufmachen? „Waisenkinder, so hieß es damals, würden sehr schnell in Erziehungsanstalten gesteckt, und davor hatte man ja Angst“, erzählt die Seniorin im Nachhinein. Ihr Tonfall ist neutral und ohne Vorwurf. Er lässt einerseits nichts von der damaligen Angst spüren, ist andererseits in der Aussage unmissverständlich. Zwei Kinder von etwa zehn Jahren mussten den gesamten Nachmittag bis in den Abend hinein arbeiten und hatten keine Chance, sich zu wehren.
Matratzen am Boden und Eierkisten als Nachtschränkchen
Zum Essen kamen 60 bis 90 Personen, die meisten wohnten im Haus. Das bedeutete, dass nach dem Mittagessen ein Nachmittagskaffee gereicht wurde, vom Abendessen ganz zu schweigen. Zu spülen gab es da viel, und das gehörte zu Marias Aufgaben. Gespeist wurde vornehm. Nicht Tellergerichte wurden aufgetragen, sondern es gab Schüsseln, Platten und Saucieren, von denen sich die Gäste selbst bedienten. Viel Geschirr also und viel Besteck, und das den ganzen Tag. Weil die meisten Essensgäste Hausgäste waren, gab es keine Sperrstunde.
Der Schwester reichte es irgendwann, sie rief das Jugendamt an und sagte, die sollten doch mal unangemeldet kommen. „Dann zeige ich Ihnen, wo wir wirklich schlafen.“ Es kam heraus, dass die Mädchen zumindest unzulänglich untergebracht waren. Im Neubautrakt waren die Zimmer noch nicht fertig ausgebaut. Die Matratzen lagen auf dem Boden, als Nachtschränkchen benutzten die beiden Eierkisten. Die gab es damals aus Holz und ließen sich als Kleinmöbel verwenden. Nun endete also die Zeit als „Pflegekinder“ im Hotelbetrieb. Zu diesem Zeitpunkt war Maria 19.
Der bewusste Blick eines Menschen auf das Positive
Sehr schnell lernte die Schwester einen Mann kennen, heiratete mit 19 und blieb im Schwarzwald. Für Maria aber war immer klar gewesen: „Wenn ich groß bin, geh ich wieder heim.“ „Heim“ war für sie Mannheim, aber der Weg dorthin verlief ebenfalls nicht geradlinig. Es folgte ein Zwischenjahr in der Haushaltsschule von Ursulinen in Karlsruhe. Zwar konnte sie dort keinen Abschluss machen, aber sie besuchte Kurse und durfte im Internat wohnen. „Dort war’s schön“, sagt sie in der Rückschau; bei diesem wiederholten Satz gewinnt man den Eindruck: Es ist der bewusste Blick eines Menschen, der sich aufs Positive konzentriert. Das Problematische wird erwähnt, nicht beklagt.
Die nächste Station war das Monikaheim in Mannheim, weil die dortigen katholischen Schwestern die Mutter gekannt hatten. Als sie während dieser Zeit ihren Großvater besuchte, hielt der Rest der Angehörigen Familienrat. „Maria kann dort nicht bleiben“, war man sich einig. Die Verwandtschaft sorgte für Mobiliar und eine Unterkunft, die war in Käfertal in der Habichtstraße 17. Maria fand eine Arbeitsstelle als Aushilfskraft. Dass sie zuvor bereits Steno und Schreibmaschine gelernt hatte, kam ihr jetzt zugute, so dass sie in ihrer beruflichen Tätigkeit rasch erfolgreich war. An der Abendschule erwarb sie den Kaufmannsgehilfenbrief der IHK - die Grundlage für den Abschluss als Bilanzbuchhalterin. Sie heiratete und bekam Kinder.
Das war der Start eines jungen Lebens in der Nachkriegszeit. Man hört kein Lamento, wie schwer alles gewesen sei. Dabei besagt der Bericht, dass diesem Leben viele Steine in den Weg gelegt wurden. Begegnet man Maria Höhn heute, staunt man darüber, dass man nach den vielen Schicksalsschlägen und schlechten Startbedingungen einem so ausgeglichenen, freundlichen und zufriedenen Menschen gegenübersitzt.
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